St. Gallische Kulturstiftung

2021, Herbst

Susanna Kulli

  • aus St.Gallen
  • Kunstpreis über Fr. 20000.– für die Region St.Gallen
  • Sparte: Galeristin

Urkunde

«St.Gallen has a cathedral and its library and Susanna Kulli’s gallery», so hat der Künstler Olivier Mosset die Bedeutung von Susanna Kulli für St.Gallen und ihre Strahlkraft darüber hinaus einmal treffend auf den Punkt gebracht. 1983 eröffnete Kulli an der Rosenbergstrasse in St.Gallen eine Galerie. In den folgenden Jahrzehnten hat sie Künstler/-innen wie John M. Armleder, Sylvie Fleury oder Thomas Hirschhorn gross gemacht und St.Gallen auf der internationalen Landkarte einen wichtigen Ort für zeitgenössische Kunst werden lassen. Susanna Kulli hat ihre Künstler/-innen an Ausstellungshäuser vermittelt und eine Reihe von umfassenden Künstlergesprächen lanciert. Die St.Gallische Kulturstiftung zeichnet die international anerkannte Galeristin und unablässige Kulturvermittlerin für ihr grosses Engagement für zeitgenössische Kunst mit dem Kulturpreis aus.

 

Laudatio, von Nina Keel, Stiftungsrätin

Liebe Susanna
Liebe Anwesende

Ende der 1970er Jahre sah Susanna Kulli in München eine Ausstellung, die erste Retrospektive des Malers Blinky Palermo, der Malerei in Objekte überführte, mit seiner Malerei direkt auf die Wände ging, damit Räume definierte. Palermo brachte Räume zum Beben und haute eine zukünftige Galeristin aus den Socken. Kulli fasste nach dieser Ausstellung den Beschluss, sich für die Kunstschaffenden ihrer Zeit einzusetzen. Noch liebäugelte sie mit einem Wegzug nach New York, sie hätte in der Galerie von John Weber zu arbeiten beginnen können, dann aber erfolgte eine Fahrt durch St.Gallen mit Freunden. Aus dem Auto sahen sie ein leerstehendes Ladenlokal an der Rosenbergstrasse. Und es kam die Frage auf, warum sie nicht hier eine eigene Galerie eröffne. St.Gallen war für Kulli nie Provinz, sondern eine Stadt mit einer Hochschule mit hervorragender Kunstsammlung, mit weit beachteten Galerien, eine lebendige Stadt zwischen Zürich und München.

 

Kurze Zeit später – einen zusätzlichen Autoausweis mehr, für Lieferwagen, damit sie die Werke ihrer Künstler eigenhändig im Ausland abholen konnte – eröffnete sie 1983 die Galerie Susanna Kulli an der Rosenbergstrasse 56 in St.Gallen. Den Auftakt machte der italienische Bildhauer Giuseppe Spagnulo, mit brüchigen Tonarbeiten. Zur Eröffnung sprach Toni Stooss, damals Kurator am Kunsthaus Zürich. Seine Worte waren so treffend, dass ich sie hier gerne wiederholen möchte: Die Eröffnung einer Galerie bedeute, dass ein Ort des Sinnierens entstehe. Ein Ort, der die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Ausdrucksformen anstosse (Die Ostschweiz, 18. April 1983, Spagnulos Selbstbildnisse). Und ich würde ergänzen: Ein Ort erfährt eine Bereicherung durch eine Galerie, St.Gallen wurde durch das hochkarätige Programm von Susanna Kulli beflügelt und die Spuren sind bis heute zu sehen.

 

Kulli tastete von Anfang Kunstschaffende über das Werk von Blinky Palermo ab. Der 1977 verstorbene Palermo diente als Referenzpunkt oder Magnetfeld, wie sie es sagt. Und über die Begeisterung für das Werk von Palermo hat sich ein Netzwerk zu bilden begonnen – zum deutschen Maler Gerhard Merz, den sie an der Documenta 82 für sich entdeckt hatte. Oder zu den Westschweizer Künstlern John M. Armleder und Olivier Mosset, die Kulli seit den Anfangsjahren kontinuierlich ausstellte und so grossmachte.

 

Susanna Kulli strebte mit den Ausstellungen einen geistigen Mehrwert an – über ihre Fragen, ihr Mitdenken. Sie wollte einen Zusatz vom Denken her. Die Künstler/innen in ihrem Programm verbindet formal eine Neigung zum Abstrakten, zur neuen Geometrie, die sich auf der Leinwand abspielen konnte, aber ebenso auf Pavatexplatten oder durch den Einsatz von viel Klebeband – nach solchen Momenten der Brüchigkeit in Werken suchte sie stets. Wie für Programmgalerien üblich, zeigte Kulli ihre Künstlerinnen im Schnitt alle zwei Jahre, wodurch sich die Veränderungen eines Oeuvres mitverfolgen lassen.

 

Wo Kulli ist, da ist Dynamik: Ihre Arbeit verstand sie immer im Dienst der Kunst, so auch den mehrmaligen Wechsel der Räumlichkeiten – weder beim Publikum, den Künstler/innen noch bei der Galeristin selbst sollte Langeweile aufkommen. Von der Rosenbergstrasse zog sie 1988 an die Vadianstrasse 57 um. Diese Räumlichkeiten beschrieb der Künstler Gerwald Rockenschaub einmal mit: «die typische 80er-Jahre-Galerie – New York in St.Gallen». Die unglaublichen Dimensionen dieser Räume gaben den Künstler/innen neue Möglichkeiten. Der Zürcher Künstler Adrian Schiess etwa konnte eine neue Werkgruppe zeigen. Mehr noch: Da sein Atelier klein war, konnte er die eigentliche Wirkung seiner sogenannt Flachen Arbeiten erst in der Galerie an der Vadianstrasse mit ihren 350 m2 erfahren.

 

Seit der Rosenbergstrasse dabei war Olivier Mosset, dessen Werk auf den russischen Konstruktivismus zurückverweist. Hier im Bild seine vierte Ausstellung in der Galerie Susanna Kulli (1993). Ich finde eine der atemberaubendsten, weil sehr präzis gehängt. Mosset ergänzte das monochrome Quadrat spannungsreich. Eines der bemerkendsten Zitate über Susanna Kullis Arbeit stammt von ihm: «St.Gallen has a cathedral and its library and Susanna Kulli’s gallery.»  –Treffender lässt sich Susanna Kullis Bedeutung für St.Gallen und Strahlkraft darüber hinaus nicht beschreiben.

 

Zur Strahlkraft möchte ich noch zwei Ergänzungen anbringen: 1984 erfolgte die erste Besprechung einer ihrer Ausstellungen in einem der wichtigsten Blätter der Kunstwelt: In der New Yorker Zeitschrift Art Forum. Kulli stellte Helmut Federle aus. Und ein Blick ins Rating der wichtigsten Kunstschaffenden in der Schweiz, das jährlich von der Zeitschrift Bilanz herausgegeben wird, zeigt: Seit den 1990er Jahren bis heute sind mehrere Kunstschaffende aus dem Programm von Kulli, etwa Armleder und Hirschhorn, unter den Top 15. Auch dies ein Zeugnis der nachhaltigen Qualität ihrer Aufbauarbeit.

 

1995 zog Kulli ins Lagerhaus an der Davidstrasse 40 und eröffnet einzig mit zwei weissen Raumtrennern von Gerwald Rockenschaub, auf denen danach andere Kunstschaffende ausstellen konnten. In der Ausstellung «Wanna play?» von 1996 ergänzte er die beiden weissen Einbauten um aufgeblasene Wände und Sitzgelegenheiten aus Transparent-Plastik. Im Einstehen für und Ausstellen von solch konzeptionellen Arbeiten zeigt sich Kullis Haltung und auch das Risiko, das sie einging. Sie stellte Kunst aus, die sich nicht oder nur schwer verkaufen liess. Ihr ideelles Engagement für die Kunst stand vor kommerziellen Überlegungen. 1995 beschreibt Kulli als das Jahr der Krise in ihrer Vermittlungsarbeit. Bei der Art Basel, wo Kulli seit 1993 mit einem Stand präsent war, stockten die Verkäufe. Kulli war nah am Aufgeben, doch da war die Idee mit den Künstlergesprächen: Ermutigt von Rockenschaub lancierte Kulli Künstlergespräche im Rahmen ihrer Ausstellungen. Den Auftakt machte ein Gespräch, das die Kunsthistorikerin Corinne Schatz mit dem St.Galler Künstler Bernhard Tagwerker führte. Kulli nahm die Gespräche auf, redigierte sie und gab sie einzeln heraus – und liess sich das mit 12’000 CHF pro Band einiges kosten.

 

Die Künstlergespräche stiessen beim Publikum, das zur Hälfte von auswärts kam, auf Anklang. Und es wurde anerkennend darüber berichtet: Ursula Badrutt Schoch schrieb, es sei eine ungewöhnlich ausgeweitete Tätigkeit einer Galeristin, sie ermögliche mit den Gesprächen in der Galerie ein breit fliessendes Nachdenken über Kunst und Kontext heute (Fön 30, kind of a privat affair, Ursula Badrutt Schoch, 1998).

 

An der Davidstrasse kamen neue Kunstschaffende dazu, etwa Sylvie Fleury. Die Ausstellung First Spaceship to Venus – mit der in einer Ostschweizer Schlosserei hergestellten Rakete – erwies sich als wegweisend für Fleury, die heute international bekannt ist für ihren subversiven Umgang mit Luxusgütern. Im Jahr darauf zeigte Kulli die Rakete zusammen mit Wollschals von Thomas Hirschhorn an der Art Basel. In Klebeband hielt Hirschhorn auf diesen Schals Künstler/innen wie Meret Oppenheim fest, die er verehrt. 2010 stellte Kulli an der Art Basel Hirschhorns Wall Display, seine Abhandlungen von Kunstgeschichte, aus und vermittelte die Arbeit von da in die Sammlung des MoMA in New York. 2004 übersiedelte Susanna Kulli auf Wunsch ihrer Künstler/innen die Galerie nach Zürich, privat blieb sie bis heute in St.Gallen wohnhaft. In der Galerie an der Dienerstrasse 21 kam nebst langjährigen Künstler/innen nochmals eine junge Generation hinzu mit der Belgierin Vanessa van Obberghen, der deutschen Künstlerin Shila Khatami oder dem Zürcher Kerim Seiler. Die Ausrichtung wurde zudem internationaler, beispielsweise mit dem italienischen Neon-Künstler Maurizio Nannucci. Und Kulli zeigte Künstlerinnen, mit denen sie schon seit Jahren im Austausch stand, wie Silvie Defraoui, der Video-Pionierin mit St.Galler Wurzeln. 2017 schliesslich gab sie die Galerietätigkeit auf – nicht aber die Vermittlung von Kunst: Sie widmet sich u.a. der Aufarbeitung des Werkverzeichnisses des Künstlerpaars Silvie & Chérif Defraoui, wozu diesen März eine Publikation erschienen ist.

 

Im Buch «33 Jahre Galerie Susanna Kulli», das 2017 erschien, werden nochmals die weitverzweigten Dimensionen ihres Vermittelns fassbar: Minutiös führte Kulli ein Archiv zu all ihren Künstler/innen, sammelte Presseartikel aller institutionellen Ausstellungen und Sammlungen, an die sie sie vermittelte. Dieses Archiv ging 2018 an die Zentralbibliothek in Zürich über. Das Buch spiegelt das reiche Medienecho über die drei Jahrzehnte. Ebenso sind darin Ausstellungsansichten zu finden und alle Künstlergespräche abgedruckt. Noch eine Bemerkung zu den anfangs erwähnten Spuren: Werke von Kunstschaffenden aus dem Programm von Susanna Kulli finden sich auch in einigen Bauten der Stadt St.Gallen: Adrian Schiess gestaltete die Treppenhäuser im Amtshaus, Olivier Mosset die Fassade eines Bankgebäudes am Roten Platz sowie dieses radikale Wallpainting in der Eishalle Lerchenfeld.

 

Liebe Anwesende, zeitgenössisches Kunstschaffen braucht begeisternde Vermittler-Persönlichkeiten wie Susanna Kulli. Für ihren unbeirrbaren Sinn für Qualität, ihre Grosszügigkeit gegenüber Kunstschaffenden, ihren langfristigen und hartnäckigen Einsatz für deren Ideen, ihr Fördern von Vernetzung zeichnet die St.Gallische Kulturstiftung Susanna Kulli heute Abend aus. Liebe Susanna, du warst federführend dabei, dass St.Gallen ein wichtiger Ort für zeitgenössische Kunst wurde. Deine Ausstellungen zogen ein internationales Publikum an und du brachtest deine Kunstschaffenden auf die internationalen Bühnen der Kunst. Es ist höchste Zeit, dein über dreissigjähriges Engagement für zeitgenössische Kunst in St.Gallen und darüber hinaus zu würdigen. Ich freue mich sehr, dir heute als Vertreterin der Stiftung einen Kulturpreis übergeben zu können.

https://www.susannakulli.ch