Mit seinen differenzierten wissenschaftlichen Untersuchungen zur postindustriellen Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die Lebensgestaltung des einzelnen Menschen hat Peter Gross wesentliche Beiträge zum Verständnis sozialer, kultureller, religiöser und individueller Entwicklungen verfasst. Von ihm geprägte Begriffe wie die Multioptionsgesellschaft sind in den wissenschaftlichen Diskurs und den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Seine Plädoyers für eine Wertschätzung der Langlebigkeit, seine Schriften zu Theologie, Kultur und Kunst zeigen ihn als einen Menschen, der als öffentlicher Intellektueller zu verschiedensten Fragen unserer Zeit Massgebliches zu sagen hat. Für sein wegweisendes wissenschaftliches und literarisches Schaffen ehrt die St.Gallische Kulturstiftung Peter Gross mit der Verleihung des Grossen Kulturpreises 2016.
«Voll ist von deinen Preisen der Himmel», schreibt Friedrich Gottlieb Klopstock in seinem Versepos «Messias». Was bedeutet der Satz, der uns heute nicht mehr auf Anhieb verständlich ist? Hing der Himmel anno 1773 etwa voller Preise? Voller Kulturpreise gar? Nein, gewiss nicht. Klopstock verwendet das Wort «Preis» in einem uns kaum mehr geläufigen Sinn, nämlich als Lobpreis Gottes aus Engels- und Menschenzungen, von dem der Himmel erklingt. Gott selbst wollte gepriesen sein, nicht die gewiss durchaus preiswürdig musizierenden Engel.
Und nein, der Himmel hängt auch heute nicht voller Preise. Darum haben sich heute ja auch so viele festlich gestimmte Prominente hier eingefunden, weil ein nur alle drei Jahre verliehener Preis wieder einen würdigen Träger gefunden hat: Der Grosse Kulturpreis des Kantons St.Gallen, der heute an den Soziologen und Buchautor Professor Peter Gross geht. Aber genau auf diesem Feld, der Differenz zwischen dem Klopstock’schen Gotteslob im Jenseits und dem irdischen Lob einer verdienten Persönlichkeit, habe ich den roten Faden für meine Laudatio gefunden. Um ein von Peter Gross verschiedentlich gebrauchtes Bild zu gebrauchen: zwischen der vertikalen, in die Höhe weisenden und der abgesenkten, horizontalen, säkularisierten Himmelsleiter, auf welcher der Mensch heute versucht, sich selber zu erlösen. Auf diesem Feld zwischen der Horizontalen und der Vertikalen spielt sich, so finde ich, der spannendste, intellektuell herausforderndste Match ab, den Peter Gross mit sich selber führt – und dank seiner Bücher zu unser aller Vorteil. Damit ist der rote Faden gegeben. Doch bevor wir uns auf diese anspruchsvollen Denkbewegungen einlassen, die für mich im Buch «Jenseits der Erlösung» kulminieren, beginnen wir, wie es sich gehört, am Anfang, bei der Herkunft.
Peter Gross stammt aus einem kinderreichen Toggenburger Lehrer- und Organistenhaushalt. Die dunklen Tannenwälder, aber auch die Kruzifixe und Heiligenfiguren, Prozessionen und Monstranzen prägen eine katholische Kindheit und Jugend, und damit die Biographie unseres Preisträgers. Und hinterlassen immer wieder ihre Spuren. Werden darin zu einem sagenumwobenen Transsilvanien. Sogar ohne die Vampire und Wölfe jener Karpatengegend geht es in der Schwärze der Toggenburger Tannenwälder manchmal unheimlich genug zu – noch ist in jener Zeit die Phantasie eines Kindes nicht von Comics, Trickfilmen und Computerspielen verstopft, sondern nährt sich von den Geheimnissen des schwarzen Toggenburger Tannenwalds. Im Toggenburg ist einst auch Ulrich Bräker aufgewachsen. Für mich geradezu ein Prototyp dessen, was wir seit Georg Friedrich Lichtenberg gerne als «Selberdenker» bezeichnen.
Selberdenker: Der Begriff passt ebenso gut auf die Persönlichkeit unseres Preisträgers, der unerschrocken seinen ureigenen Denkpfaden folgt, auch wenn es nicht allen gefällt. Der an den Komfortzonen des Denkens nicht interessiert ist. Der den gerade angesagten Mainstream nicht nur meidet, sondern kritisch-provokativ hinterfragt, wenn ich etwa an seine Publikationen zum Thema Alter denke. Eigentlich ist es ja schwieriger, Selberdenker zu sein, wenn man eine lange und zwangsläufig auch durch geistige Moden und Megatrends genormte Bildungslaufbahn bis hin zum habilitierten Professor durchlaufen hat, als wenn man – wie Ulrich Bräker, der arme Mann aus dem Tockenburg – sich sein Denken als Autodidakt selber zurechtlegen muss…
Transsilvanien, zum zweiten: Damit legt Peter Gross auch eine Spur zu einem Autor hin, dem er gewiss wichtige Impulse verdankt: Den schlaflosen Siebenbürgener Radikaldenker Emil M. Cioran, dessen erstes Buch bezeichnenderweise «Auf den Gipfeln der Verzweiflung» heisst. Nicht, dass Peter Gross ein therapiebedürftiger, verzweifelter Mensch wäre. Nein: Verzweiflung löst ja auch bei Cioran nicht etwa finsteres Nichtwissen aus, sondern im Gegenteil die Erkenntnis: (zit.) «Die Erkenntnis ist eine Plage für das Leben und das Bewusstsein eine klaffende Wunde im Lebenskern». Weit entfernt vom Denkgerüst von Peter Gross ist dieser Satz jedenfalls nicht. Er gehört sogar zu dessen Fundament.
Vorerst aber ist von wissenschaftlicher Laufbahn und publizistischem Erfolg über die Soziologie hinaus zu reden. Der Name, die Stimme von Peter Gross ist einer an Gesellschafts- und Zeitdiagnostik interessierten, also breiteren Öffentlichkeit durch sein 1994 erschienenes Buch «Die Multioptionsgesellschaft» bekannt geworden, das inzwischen in 11. Auflage erscheint. Der Grosserfolg, wenngleich während seiner St. Galler Zeit publiziert, hängt mit seinem Wirken als Soziologe an der Universität Bamberg zusammen. Dort hat Peter Gross von 1979 bis 1989 an der Seite zweier ebenfalls über ihr Fach hinaus bekannter Soziologen gewirkt: Ulrich Beck und Gerhard Schulze. Die Neunzigerjahre waren, nach dem Zusammenbruch der West-/Ost-Polarität, die Zeit der grossen Gesellschaftsdiagnosen und -konzepte. Nicht weniger als 35 Bücher, mehr und weniger erfolgreiche, sind zu diesem Thema publiziert worden. Auch die Bamberger Kollegen hatten publikumswirksame Bücher dazu verfasst: Ulrich Beck die Risikogesellschaft, Schulze die Erlebnisgesellschaft.
Die Multioptionsgesellschaft, diese Wortprägung, die seither in unserem Wortschatz Einzug gehalten hat, ist weniger eine wissenschaftliche Publikation als ein grosser Essay. Was bei gewissen Fachkollegen natürlich Stirnrunzeln verursachte. Aber heute kann man feststellen, dass das intellektuelle Konzept der Multioptionsgesellschaft die grössere Dynamik als die meisten dieser Zeitdiagnosen freilegte und eines der nachhaltigsten der insgesamt 35 erwähnten Bücher geworden ist. Denn die permanente Steigerung des Optionenangebots in der neonerleuchteten Welt eines gigantischen Supermarkts macht, dass der Mensch sich frei, aber auch zunehmend heimat- und orientierungslos los fühlt. Ein Wirbel, der uns vereinzelt, der uns in immer höhere Höhen der Individualität aufwirbelt, aber gleichzeitig auch zu verschlingen droht.
Es tut sich auf, was Peter Gross von nun an als Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung erkennt: Die Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die durch das «Immer schneller, immer weiter, immer mehr» nicht kleiner, sondern immer grösser wird: «Überall klaffen Lücken zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, überall werden Differenzen zwischen Wirklichem und Möglichem aufgeblendet, überall werden sagenhafte Leistungen und grosse Sprünge demonstriert.» Mit all seinen Folgen. Wo soll das alles hinführen? Diesem Thema bleibt Peter Gross bis heute auf der Spur, ohne daraus eine mehrbändige soziologische Theorie zu entwickeln. Dazu ist sein Geist zu neugierig, auf einer Flughöhe, die auch das Alltagspraktische nicht aus den Augen verliert. Bevor er für 20 Jahren nach Deutschland übersiedelte, engagierte er sich auch politisch und wurde 32-jährig in den Thurgauer Grossen Rat gewählt. Seine publizistische Präsenz war und ist beeindruckend, ebenso die Zahl seiner Auftritte als Referent und Diskussionsteilnehmer. Was ist da nicht alles darunter: Stellungnahmen zu aktuellen Problemen aller Art, aber auch kenntnisreiche Texte in Ausstellungskatalogen, Beiträge für Theater- und Musikfestivals. Oder die Tätigkeit als erster «Merker» des St.Galler Tagblatts, der unserem Publikum periodisch über seine Beobachtungen als kritischer Leser Bericht erstattete.
Das alles in einer Sprache, die den Autor selbst und uns als Leser manchmal durch ihre assoziative Wucht der Bilder und Eindrücke beinahe überwältigt. Ein fortlaufend sprachschöpferisches Selbstgespräch, das uns auf seinen Gedankengängen manchmal in entlegene und seltsam anmutende Landschaften mitnimmt. In allen seinen Publikationen und Interventionen, erst recht aber in seinen Büchern, ist ein ebenso provokationsbereiter wie lustvoll sprachmächtiger Geist am Werk, wie man ihn leider in unseren heutigen Medien selten mehr begegnet. Wie gerne hätte man als Verantwortlicher einer Zeitung mehr von dieser Sorte produktiver Kreuz- und Querdenker!
In der «Ich-Jagd», seinem nächsten grossen Essay von über 300 Seiten, wendet sich Peter Gross 1999 den Folgen der Multioptionsgesellschaft auf das Ich, auf den einzelnen Menschen zu. Getrieben von der Jagd nach sich vervielfachenden Möglichkeiten ist das Ich mit sich selbst beschäftigt – und droht sich dabei zu zu fragmentieren, aufzulösen, zu verlieren. Das ist das Thema der Jagd des freigesetzten Ich durch immer neu sich öffnende Räume. Kann es sich selber finden? Kann der Mensch die Differenz zwischen Ichwirklichkeit und Ichverwirklichung aufheben? Die Antwort ist nicht einfach, das Buch ist nicht einfach. Die Jagd geht weiter. Sie hat ja vielleicht erst richtig begonnen. Doch die Ich-Jagd ist auch das missing link zum nächsten Buch, das mich als Leser von allen vielleicht am meisten beeindruckt hat: «Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums», 2008 erschienen. Wer das Denken des heutigen Preisträgers bis hierher verfolgt hat, der weiss, dass hier kein wohlfeiler Schwenk auf ein vermeintliches Revival der Religion zu erwarten ist, wie inzwischen eine bald unübersehbare Wiederkehrliteratur herausposaunt. Zum Teil von Kirchenleuten selbst, vor allem aber von den vielen – auch vielen weiblichen – Aposteln einer vagen, vielfältigen, oft einfach nur verblasen-schummrigen Spiritualität.
So einfach kann es sich einer nicht machen, der den Menschen als Mängelwesen begreift, das gerade deshalb immer auf der Jagd nach dem ganz Anderen, dem Abwesenden ist. Ein Abwesendes, wie es in der Vorstellungswelt des Menschen seit jeher anwesend war und ihm keine Ruhe lässt, weil es dort – oder von dort – die Erlösung hofft. Zur Differenz zwischen Hier und Dort (Multioptionsgesellschaft) und Aussen und Innen (Ich-Jagd) tritt nun jene Superunterscheidung von Himmel und Erde, zwischen einer diesseitigen und einer jenseitigen Welt. Orbis non sufficit, die Welt ist nicht genug. War es nie. Das ist das Feld der Religion, und zwar – nicht nur im Christentum – als Erlösungsreligion. Man kann diesen Zwiespalt, diese Differenz, wie es bei Peter Gross heisst, leugnen, oder man kann sie zu schliessen versuchen (indem man sich mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft sprengt). Man kann sie aber – und das ist es, was uns der Autor nahelegt – akzeptieren. (zit.) «Dass der Mensch nicht ist, was er sein möchte, ist Grund seiner Anstrengungen und Leistungen. Wäre er erlöst, es gäbe keine Kultur und keine Religion. Es gäbe nichts. Und würde er erlöst, bedeutete dies das Ende aller Versuche, sich und die Welt zu deuten. Es wäre das Ende der Welt und das Ende des Menschen.»
Es bleibt deshalb bei der unheilbaren Unvollkommenheit, mit der wir leben müssen. Das ist der Stachel, der in unserem Fleisch bleibt, den man nicht herausoperieren kann und nicht leugnen soll. Das ist am Ende das Plädoyer für eine «gelassene Religion», die eine Transzendenz akzeptiert, ohne in sie eingehen zu wollen. Eine Transzendenz, welche die Existenz eines bevölkerten Himmels – wie bei Klopstock! – anerkennt, ohne sich deswegen schon als musizierender Engel herumschweben zu sehen.
Wir alle, meine Damen und Herren, werden älter. Manche von uns werden sogar alt. Obwohl d a s dann doch wieder keiner so richtig will. Weil Alter, das tönt nach Verfall, Krankheit und Tod. Man kann resignieren, oder darüber lamentieren, oder man kann ins Fitnesszentrum gehen und sein Alter mit pseudojugendlichem Gehabe verleugnen. Man kann aber auch, wie Peter Gross, den Stier des heutigen Jugendwahns bei den Hörnern packen und das Alter im Gegenteil als Geschenk betrachten, das ja erst den Menschen der allerneuesten Zeit zuteil geworden ist: jener dritte grosse Lebensabschnitt, der ein Menschenleben erst ganz macht. Die Langlebigkeit, die ihm erst die Zeit gibt, über sein Leben nachzudenken und es abzuschliessen. Teil einer Drei- oder gar Vier-Generationenfamilie zu sein. Das ist die frohe Botschaft der beiden Bücher «Glücksfall Alter» (mit Karin Fagetti) und «Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?»
Wenn man die grosse Resonanz dieser beiden Bücher gegen den Trend betrachtet, muss man zum Schluss kommen, dass die Zeit für einen Paradigmawechsel in unserer Einstellung zum Alter gekommen ist. Und wir können uns glücklich schätzen, dass es zwei so nachdenkliche, in weitgespannten Zivilisationszusammenhängen argumentierende Bücher sind, die das leisten. Deren Optik könnte schon bald ebenso zum Allgemeingut gehören wie der Begriff der Multioptionsgesellschaft.
Als ich erfuhr, dass Peter Gross über Krankheit, Sterben und Tod seiner Ehefrau ein Buch geschrieben habe mit dem Titel «Ich muss sterben», war ich erst einmal skeptisch. Ich fragte mich: Wird da nicht eine private, wenn auch existenzielle Lebenssituation den Blicken einer sensationsgeilen Öffentlichkeit preisgegeben, die von möglichst intimen Details nie genug bekommen kann? Ich weiss nicht, ob bei dieser meiner Skepsis eine Rolle spielte, dass ich am Privatleben der beiden seit vielen Jahren teilhatte. Dass also, wären mir Peter und Ursula Gross fremd gewesen, meine Skepsis womöglich kleiner oder gar nicht vorhanden gewesen wäre. Dann aber erkannte ich, dass es sich hier nicht im Geringsten um das Spekulieren auf den Voyeurismus des Publikums ging. Sondern dass Peter Gross hier seine Gedankengänge, die er vor allem in «Jenseits der Erlösung» entwickelt hatte, auf den Prüfstand der eigenen, privaten Existenz stellte. Das ist ein ehrliches, ein riskantes Unterfangen auch. Und tatsächlich: Wer die Geschichte dieses Abschieds liest, die auch eine Geschichte einer Liebe ist, kann nicht anders als tief berührt sein. Durch das Zeugnis einer innigen lebenslangen Verbindung, die auch mit dem Tod des Partners nicht zu Ende ist – im Gegenteil, die nun erst recht an Dauerhaftigkeit gewinnt. Zum anderen aber auch berührt durch den Mut des Autors, die Erkenntnisse, die er in seinen drei Büchern (Multioptionsgesellschaft, Ich-Jagd, Jenseits der Erlösung) gewonnen hat, in einer existenziellen Verlustsituation zu überprüfen. Sie halten stand. Die Distanz, die durch den Tod entstanden ist, lässt die Sehnsucht nur stärker, dringlicher werden. Genau wie die Sehnsucht nach Erlösung vielleicht nur umso grösser wird, je weniger wir daran glauben, dass sie uns zuteilwerden kann.
Damit komme ich zum Schluss. Die Laudatio auf den Verstorbenen ist bis heute ein zentraler Bestandteil jeder Trauerpredigt. Sie hat den unbestreitbaren Vorteil, dass ihr der Verstorbene nicht widersprechen kann. Da der hier Gepriesene aber glücklicherweise unter uns weilt, kann ich von diesem Vorteil nicht profitieren. Und bitte Sie, meine Damen und Herren, insbesondere aber den Preisträger, demütig um Nachsicht. Dafür danke ich Ihnen.
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