St. Gallische Kulturstiftung

2019, Frühjahr

Nelly Bütikofer

  • aus Rapperswil-Jona
  • Anerkennungspreis über Fr. 15000.– für die Region See-Gaster
  • Sparte: Tänzerin, Choreografin

Urkunde

Nelly Bütikofer tanzt aus den Reihen und steht seit ihren Anfängen auf eigenen Beinen. Mit einer klassischen Ausbildung in der Tasche, hebt sie seit über 50 Jahren den zeitgenössischen Tanz aus eingrenzenden Formen und fächert ihn auf in ihre eigene Fasson. Als Choreografin und Regisseurin erschafft sie Kompositionen, die Tanz, Text und Ton unter einen Hut bringen und auf den Rändern aller Künste balancieren. Ihre eigenwilligen Werke machen subtile Tiefgänge sichtbar und wirken mit ihrer Heiterkeit lange nach. Ihre bewegte Bildsprache beseelt Räume und erfindet Welten. Die performative Bühnenkünstlerin tanzt seit je selber mit. Ein Leben im und für den Tanz braucht Mut und Ausdauer. Mag uns die Vielfalt ihrer Kunst weiterhin bewegen. Die St.Gallische Kulturstiftung zeichnet die Tänzerin und Choreografin mit grosser Wertschätzung und Anerkennung aus.

Laudatio von Barbara Schlumpf, Vizepräsidentin

Ich erinnere mich gerne an dieses Bild: Du trägst gelbe kräftige Schnürschuhe, ein bleiblaues Kurzarmkleid und deine Löwenmähne. Und tanzt. Mit diesen gelben Schnürschuhen. Die Füsse Flex. Die Augen wach. Rebellisch und bodenständig-zart. Zäh, filigran und heiter. Auf der schmalen Bühne. Im Auditorium des Seedamm Kulturzentrums. Ein Gastspiel zu einer Ausstellung, über Adolf Wölfli oder so. – Das war vor gut 30 Jahren! Ich sehe dich und höre deine Schritte, wie wenn es heute wäre. Das Bild hat lange überlebt. Vielleicht wars ein bisschen anders – die Erinnerung fügt manchmal was dazu, egal. Ich frage mich: Wie kann eine an sich flüchtige Kunst, wie der Tanz, sich so nachhaltig einprägen?! Da ist eine enorme Kraft im Spiel.

 

Mit Bewunderung verfolgte ich deinen zeitgenössischen Tanz: nicht Modern, nicht Graham, nichts Definiertes, nicht Ausdruckstanz, nicht Tanztheater mit seinen linearen Handlungen, kein Handlungsballett – nein: Eine theatralisch tänzerische Bühnen-Raum-Erzählform mit poetisch-lyrisch-rhythmischen Charakter, Text, Musik und bewegter Emotion. Wow, das ist auch Tanz, Wahnsinn!, dachte ich. Eine Vielheit von Künsten, die zusammenwirken. Und alle zusammen die individuelle Sprache von Nelly Bütikofer: Ein Brand! – schon damals. Deine Tanz-Sprache, dich durch die freie Szene zu bewegen und mitzuteilen: «à ma fasson», wie du Adolf Wölfli gerne zitierst.

 

Ich nannte dich heimlich «meine Pina Bausch der Schweiz». Tatsächlich war die Bausch dein Vorbild, wie du heute sagst. Nicht zum Nachahmen, sondern für den Mut, dein Eigenes zu machen. Du warst im Projekt mit den gelben Schuhen mit Sprech-Schauspielern unterwegs und hast das bis heute durchgezogen. Als Pionierin im performativen Tanz. Ich fragte mich damals: wie kann eine Tänzerin so rebellisch und ungehorsam den Tanz auf-brechen, deren Anfang in der klassischen Ästhetik liegt. – Keine Schwäne in weiter Ferne, kein Tüll, keine Federn, keine weissen Tauben und sowieso keine Spitzenschuhe. Auch wenn es spürbar bleibt, dass du deine klassische Tanzausbildung pflegst – wie Silberbesteck in der Schublade: Du hast es zur Verfügung, falls du diese Werkzeuge brauchst, als Fingerübung. Und nimmst dein Buch selber in die Hand.

 

Viele Faktoren haben mit glücklicher Hand und – in deinem Fall mit glücklichem Fuss – zusammengewirkt: Ich pflücke sieben Themen, die um die Nachhaltigkeit deines Lebenswerks herum-kreisen.

 

  1. Leben im Tanz

Oder: Ich tanze, also bin ich. Tanz ist dein Wesen.

Das Zentrum aller Ausflüge. Sinnfindung und Sinnsuche. «Singt und tanzt, sonst wissen die Engel im Himmel nicht, was mit dir anzufangen», ein Lieblingszitat von dir. Tanzen ist Spielen – Wie die Kinder: „Chumm mir spielet tod und läbig… und alles». Kreuz und quer, durch alle Alter hindurch, von der Blume zur Knospe, das Leben vorwärts und rückwärts gespult, mäanderst du durch alle Themen, Sehnsüchte und Abgründe, die dich berühren.

 

  1. Deine innere Notwendigkeit, Lebens-Geschichten zu erzählen

Deine Inspirationen entdeckst du auch beim Lesen oder in der Musik: Da wird was an den Strand gespült, und es muss dann sein. „Man merkt genau, wann eine Idee sein muss. Dann muss es sein“, sagst du.

 

  1. Deine Stücke tanzen mit Literatur

Die Sprache verstehst du als Klang, Musik, Rhythmus. Und darüber hinaus. Nicht nur als Trägerin von Information. Von aktuellen Autoren – bis zurück zur Mythologie:

Du packst deine Lieblingsautoren – wie Jandl oder Mayröcker – am Schlafittchen, lässt dich von ihnen beflügeln, und sie liefern viel Raum für dich selber, und du flirtest mit deren Witz und Humor. Und mit uns: Du übersetzt die Sprache in Bewegung, du machst aus Wörtern Körper und neue Formen – im oft unkonventionellen Raum.

 

  1. Die skurrile Heiterkeit in deinen Projekt-Titeln

Wie zum Beispiel: Adams Apfel / In meinem Kopf schneit einer / Sprechtanz mit Herrn Jandl / Sommers oder so / bockmitbrot / was lange währt wird endlich anders / Flirten mit Aschenputtel – ein Wettlauf / weitermachen / Das Unglück braucht keine Zeit / ein Plädoyer für das Jetzt / Ja sagen zum bin ich geworden sein / Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. – Dein jüngstes Werk in diesem Frühling. Dein zukünftiges mit Geschichten von Judith Keller und dem Titel: «Die höchste Zeit» tanzt am Ende dieses Jahres auf einen neuen Höhe-Punkt zu.

 

  1. Dein Pioniergeist, mit dem du Fäden spinnst und zusammenhältst – wie einst Ariadne bei den alten Griechen

Deine Stücke sind Kompositionen. Es ist dir auch wichtig, dass man deine Werke so wahrnimmt. Im ‚componere‘ – (lat./dt.) zusammenfügen – arbeitest du ‚trans-disziplinär‘: Über die Sparten hinaus. – Das Überschreiten und in Frage stellen von fixen Grenzen ist heute fester Bestandteil der Kunstszene. Transdisziplin ist der Trend, den in diesem Frühling auch das BAK als Kriterium für nationale Preise auf die Fahne schreibt. – Du bist darin schon längst selbstverständlich zuhause… Und passt auch da in keine Schublade: Auch im Grenzen-Überschreiten bleibst du Grenzgängerin.

 

Deine Art, Regie zu führen, ist eine andere als bei jemandem, der vom Sprechtheater kommt: Du willst um die Sache herum-kreisen. Du musst es SEHEN, und dann vielleicht nochmals verwerfen. Das braucht für deine Leute Flexibilität. Du verlangst auch vom Publikum eine Art Mündigkeit. Schenkst viel Freiraum zum Assoziieren. Es gibt Zuschauer, die mit dieser Freiheit nicht umgehen können: Man muss selberschauen, ertragen und entscheiden, was man erkennen will. Nicht alle deine Stücke liegen auf der Publikums-Breitseite. „Man weiss nicht genau, was die jetzt wieder macht. Das macht es auch schwierig zum einordnen“, sagst du selbstironisch.

 

  1. Aber dein Tanz kommt aus dem Alltag

«Liebe Grüsse. Odysseus oder: Die Kunst auf ihn zu warten»: Ein Spiel für zwei Tänzerinnen, eine Sängerin, sechs strickende Frauen und einen Männerchor – scheppernd aus dem Küchenradio – über das Warten von Penelope: Deine Aufführung im Schloss Rapperswil, hoch über der Stadt im Rittersaal: Ebenfalls eine nachhaltige Erinnerung!: Die schwarzgekleideten weisshaarigen Frauen, die ein Leben lang weiter-stricken mit weisser Wolle, die Lismete schon überlang – zum Bild gewordene Zeit für das ewige Warten auf den Traumprinzen, der nicht kommt…: Sogar dieses Stricken sah aus, wie wenn selbst das Stricken eine Tanzform ist.

 

  1. zur Beharrlichkeit der Antigone

Tanz ist etwas vom Härtesten: Nicht verstanden, abgewiesen und abgelehnt werden. Du lässt dich von unqualifizierten Leuten nicht qualifizieren. Regie führen, Geld suchen, Spielorte finden, die Produktion auf die Beine stellen, Leute mit ähnlicher Chemie antreffen, Texte wählen und verinnerlichen, kürzen, selber trainieren und den eigenen Qualitätsanspruch erfüllen. Du bringst diverse Fächer unter einen Hut: Als künstlerische Leiterin deines Fasson-Theaters, Veranstalterin, Produzentin – welche die Budgets macht und die Konzepte schreibt, Choreografin, Regisseurin, Coach, Dozentin, Dramaturgin – und natürlich Tänzerin! Es ist ein Ganzes, verbunden mit allem Drum und Dran. Und es hat immer mit Tanzen zu tun. «Wenn man nur vom Tanzen etwas versteht, versteht man auch vom Tanzen nichts», sagst du. «Tanz lässt sich von so vielem beeinflussen, dann ist er lebendig.»

 

Du hast es aus- und durchgehalten. Deine Leute immer gefunden für Ad hoc-Gruppen. Und: Du gehst mit der Zeit: tanzt wieder selber mit. Gewisse Techniken gehen nicht mehr. Du entwickelst andere Formen. Das Älterwerden ist selbstverständlich geworden. Mit Freude und Erfüllung sagst du: «Ich bin 70 und kann das machen, was ich gerne mache. Das ist ein Privileg. Hat seinen Preis. Aber ein Privileg.» Ein Anerkennungspreis ist ein Preis. Aber auch eine wertschätzende Wahrnehmung: Seit über 50 Jahren belebst du die freie Szene mit jährlich neuen Werken: Deine Kompositionen – dein getanztes Bühnenschaffen – sind mutig, feinfühlig, inspirierend und nachhaltig. Sie erzählen von heiteren Zugängen zu tiefgründigen Themen und Sinnfragen, die du mit deinem intuitiven Tanzspürsinn sichtbar machst.

 

Mit dem Anerkennungspreis 2019 ehrt die St.Gallische Kulturstiftung dich, Tänzerin und Choreografin Nelly Bütikofer, für dein grossartiges und breitgefächertes Lebenswerk.

 

à ta fasson. Nach deiner Eigenart.

https://nelly-buetikofer.ch