St. Gallische Kulturstiftung

2022, Herbst

Milo Rau

  • aus St.Gallen, Köln, Gent
  • Grosser Kulturpreis über Fr. 30000.– für die Region St.Gallen
  • Sparte: Theater- und Filmregisseur, Autor

Urkunde

Milo Rau verschränkt in seinen Arbeiten Wirklichkeit und Kunst: Seine Projekte beleuchten drängende Zeitfragen, machen Unbewusstes bewusst, bringen Verdrängtes und Provozierendes auf die Bühne und zeigen Brennpunkte globaler Auseinandersetzungen. Milo Raus „globaler Realismus“ ist deshalb Weltkunst im eigentlichsten Wortsinn und zugleich Laboratorium, in dem sich Vergessenen, Unvorhergesehenes, Imaginäres und Zukünftiges in einem furiosen Tanz vereinigen. Rau schafft Kunst, die eingreift ins Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte.

 

Laudatio, von Sibylle Berg, Schriftstellerin

Die Menschen gewöhnen sich an alles. An Überwachung, Ungerechtigkeit, an Gier, Grausamkeit. An Finanzprodukte – die Waren und Menschen überflüssig machen, an das Frieren für die Energiekonzerne, und daran, das Menschen angeklagt werden, die  andere Menschen aus dem Meer retten.

 

Wir machen weiter wie immer.

 

Wird schon nicht so schlimm werden.

 

Wir machen Kunst.

 

Wird schon einer sehen – in Theatern, in denen im Winter die Heizungen runtergedreht werden, oder sie dienen als Wärmestuben – das ist sinnvoll und naheliegend, denn die BesucherInnen bleiben aus. Nach drei Jahren Pandemie haben sich viele der ehemaligen AbonnentInnen gefragt, ob Inflation und Theater einander für ihr persönliches Wohlbefinden ausschliessen. Und haben mit Ja geantwortet. Die Stadttheater waren schon vor der Pandemie Orte der subventionierten Dauerkrise. Orte, da vornehmlich männliche Regisseure aus Kostengründen Texte vornehmlich männlicher toter Autoren unter männlicher Leitung für mehrheitliche Besucherinnen inszenierten, aber in erster Linie für sich. Wenn überhaupt, fanden zeitgenössische politische Themen mit Verweis auf die planerische Vorlaufzeit mit grosser Verspätung statt. Oder gar nicht oder wenn doch, dann wateten SchauspielerInnen schreiend durch Bühnenwasser. Dort liefen sie noch immer, vor halbleeren Sälen, gäbe es nicht alle paar Jahre eine Revolution. Na ja, Revolution – also alle paar Jahre sprengt eine Inszenierung, eine Performance, ein Tanztheater die übliche Langweile. Und manche lassen die ZuschauerInnen über sich hinauswachsen, und aufgehen, in einer gemeinsamen Wolke aus Erregung und dem Begreifen von etwas Grösserem.

 

Milo Raus «Hate Radio» war für mich  ein Erlebnis, bei dem ich mich daran erinnerte, dass man tatsächlich relevante Themen ins Theater übertragen kann. Und dass es möglich ist dort etwas zu lernen ohne belehrt zu werden. Vielleicht war «Hate Radio» Milo Raus Durchbruch ins kollektive Theater-Bewusstsein, doch schon Jahre vorher erfand er für die damalige Dekade eine neue Kunstform. Sicher haben Theoretiker längst einen interessanten Namen für Milo Raus Arbeiten gefunden: post traumatischer Bühnen-Realismus oder – es ist egal, wie man nennt, was da meist stattfindet: Nicht weniger als ein wahrhaftiges Begreifen der irrationalen Grausamkeit des Menschen und deren Auswirkungen auf das Individuum, ist es, was er seinen Zuschauern schenkt. Milo Raus Arbeiten lassen den Betrachtenden an historischer nicht-europäischer Geschichts-Erzählung teilhaben, die oft nur flüchtig oder noch öfter – gar nicht den Weg über westliche Medien in unser Bewusstsein finden. Das Begreifen der Zufälligkeit eines Geburtsortes, die Fragilität unseres Lebens, egal ob wir aus Europa, Afrika, Südamerika stammen wird durch  Raus Arbeit oft zu einer Euphorie des universalen Gefühls, Teil von Milliarden zu sein.

 

Für mich hat sein Werk in seiner Aktualität, seiner unmittelbaren Wirkung und dem Erfahren von Menschlichkeit eine Bedeutung, die jede Shakespeare Inszenierung übertrifft. Milo Rau ist es gelungen, die Akteure und Schicksale seiner Protagonisten nie zu benutzen, sondern ihnen Stimme und Sichtbarkeit zu gegeben. Milo Raus  «Das neue Evangelium» Menschen auf der Flucht, seinen Performances und Inszenierungen  sind fast alle am Ort der verhandelten Ereignisse mit Beteiligten entstanden. Auch wenn Milo Rau lehrt, eine Produktionsfirma hat, vermutlich nebenbei noch 29 Festivals leitet, von denen ich keine Ahnung habe, obwohl er grossartige Filme und Hörproduktionen kreiert: Das wirklich Überwältigende für mich sind seine Theaterarbeiten. Weil sie so weit über das Netflix-hafte Konsumieren im Bett hinausgehen. Weil sie dem Zuschauenden das unmittelbare Erleben und Begreifen, das durch einen geteilten Raum stattfindet, schenken.

 

Milo Rau ist einer der wenigen SchweizerInnen, die es zu einer internationalen Bedeutung geschafft haben. Für mich schade, für ihn logisch, hat er nie ein Theater in der Schweiz geleitet. Aber vielleicht übernimmt er irgendwann das Theater St.Gallen, und bekommt ein Denkmal vor dem Rathaus. Oder die Danksagung der Schweiz, dass sie sich durch seine aktive Hilfe von der Peinlichkeit einen toten Menschen gegen Bezahlung anstarren zu können, befreit hat. Was uns  bleibt, ist die Begeisterung, dass es ein Künstler trotz seiner eventuellen unvorteilhaft angenehmen Geburtsumgebung, trotz des geschützten Raumes, den unser Land bietet, geschafft hat, eine international gültige Theater-Sprache zu erfinden, ein Künstler der durch eine Art un-schweizerische Besessenheit Teil dessen ist, was Kultur noch ein wenig am Leben erhält: Nicht ein Aussitzen des überholten, sondern eine ständige Erweiterung der tradierten Kunstbegriffe.

 

Milo Raus Arbeit zeigt, dass es wichtig ist, am Theater festzuhalten: Um einigen das Gefühl zu geben, dass es mehr gibt als den Alltag mit seinen lebensimmanenten Demütigungen. Um Betrachtenden und Akteuren eine Heimat zu geben, für den Verstand und das Gefühl, wenn schon der Körper starr ist vor Entsetzen. Wir schreiben Bücher, inszenieren Opern, spielen Theater und malen Bilder, vielleicht einfach, weil wir sonst nichts können. Weil wir sonst keine Funktion mehr hätten. Und weil gerade das Theater ein so visionärer Ort ist, in dem es keine Hierarchie gibt, keine Geschlechterungerechtigkeit, keinen Rassismus und Sexismus. Ein utopischer Ort, in dem für jede alles möglich ist. Ein geschützter Raum, in dem wir uns jenseits des patriarchalen Systems gelassen und ohne Angst bewegen, in dem wir frei sind und friedlich gut gelaunt. In dem die Guten in der Überzahl sind. Die Besonnenen, die Liebevollen, die Mitfühlenden. Und so weiter. Okay, das war ein kleiner Schlussscherz.

 

Ich gratuliere Milo zu seinem Preis, ich hoffe er bekommt viel Geld, Liebe und eine schöne Urkunde. Und Schepenese kann endlich in Ruhe, umgeben von Toten die ihre Sprache sprechen, ausruhen.

 

 

Dankesrede von Milo Rau, Preisträger Grosser Kulturpreis

Vielen Dank, liebe Sibylle. Zuerst, vor allem anderen, will ich sagen: Ich liebe St.Gallen. St.Gallen hat das beste Kino, nämlich das KinoK, das beste Theater, das beste Konzertlokal, nämlich das Palace, die besten Intellektuellen, die besten Bäuerinnen und Bauern, die beste Bratwurst, die beste Kulturjury, die besten Konservativen und die besten Liberalen. Aber wissen Sie, was ich am meisten an St.Gallen liebe? Es ist diese Frische, ja eigentlich Kühle, die einen umweht, nicht nur im November, sondern auch im tiefsten Sommer, diese magische Kühle, die in St.Gallen schon am späten Nachmittag daran erinnert, dass der Frost, der nasse Schnee, der eisige Nordwind die wirkliche Natur dieses Ortes sind. Oder die Gerüche der Wiesen und Wälder und, natürlich, der Gülle, die bis ins innerste urbane Herz unserer Stadt dringen. Ganz egal, wieviele Vororte, zum Beispiel Oberhofstetten, wo ich aufgewachsen bin, wir noch an St.Gallen anbauen werden: St.Gallen ist eine wilde Stadt. Sie wurde mitten in der Wildnis gegründet, ohne einen anderen Gründungs-Grund als die Eingebung eines Mönchs. Wild war St.Gallen deshalb schon immer und wild wird diese Stadt immer bleiben.

 

Lassen Sie mich also absolut ehrlich sein: Ich bin in Bern geboren, ich lebe seit Ewigkeiten in Berlin und Köln und Gent, aber in St.Gallen bin ich aufgewachsen und St.Gallen ist meine Heimat. So einfach ist das. Schon wenn ich, noch fast in Winterthur, auf unsere Stadt zufahre, wenn auf einmal nur noch der St.Galler Dialekt zu hören ist, als dürften nur Einheimische über Wil hinaus in den Osten reisen, beginnt sich etwas an meinem Seelenzustand zu ändern. Hinter Wil, spätestens in Gossau fühle mich innerlich aufgepeitscht, angerührt, verwirrt, ich werde magnetisch in etwas hineingezogen, so wie Odysseus, der auf seinen Reisen dem Gesang der Sirenen verfiel. Auch wenn der Ostschweizer Dialekt vielleicht nicht zwingend an den Gesang der Sirenen denken lässt: für mich schon. St.Gallen ist für mich, wie soll ich sagen, eine Anrufung, eine existenzielle Auflösung, etwas Atmosphärisches. Denn Heimat ist mehr als ein Wort, es ist der Ort, der sich einem, warum auch immer, in einer Weise eingeprägt hat, dass man selbst Teil davon geworden ist. Wir haben keine Heimat, wie man so sagt, sondern die Heimat hat uns. Dagegen können wir nichts machen, und hinter Gossau also merke ich, aus Paris oder Berlin oder dem Kongo kommend: St.Gallen hat mich, St.Gallen besitzt mich. Ich bin St.Gallens Eigentum, ob ich will oder nicht. Ich will, ganz ehrlich, sogar in St.Gallen begraben sein. Aber bitte nicht nackt und in einem Glassarg.

 

Womit ich zu Teil zwei dieser Rede komme. Ich sehe viele bekannte Gesichter im Publikum, meine Lehrer*innen, meine Schulkamerad*innen, meine Familie. Deshalb will ich ehrlich sein, denn Sie kennen mich ja sowieso und durchschauen mich: Wenn alles gut ist, alle einig, wenn das Einverständnis regiert, dann fühle ich den Zwang, Gegensteuer zu geben. Man kennt das aus Horrorfilmen: Es wird ja immer eine idyllische Landschaft gezeigt, vielleicht eine Vorstadt mit Gärten oder immerhin ein Stadtpark, singende Kinder, friedliche Bürger, von irgendwo hört man Klavierspiel, Vögel zwitschern, und dann richten die Zombies ihr Blutbad an. Es ist immer Sonntag vor der Apokalypse, oder immerhin Donnerstag, wie heute.

 

Das ist der Nebeneffekt zu dem, was Sibylle das Glück der sicheren und reichen Geburt genannt hat, ein Glück, an dem wir hier alle teilhaben: Dass unter dem Reichtum der Raub, unter der Sicherheit die Exklusivität, unter dem Glück ganz allgemein die Gewalt und die Perversion versteckt sind. Simpel formuliert: Was wir St.Galler*innen haben, haben andere nicht – oder sie hatten es mal, aber jetzt nicht mehr. Wie kann es zum Beispiel sein, dass so nette Menschen wie die hier Versammelten einst eine aus ihrem Grab gezerrte Leiche einer Priesterin gekauft haben, sie heute nackt ausstellen und dafür jedes Jahr Millionen abkassieren? Wer macht sowas? Ist das wirklich das St.Gallen, das wir alle lieben? Aber dazu später.

 

Wie Sie wissen, bekomme ich heute den St.Galler Kulturpreis. Der St.Galler Kulturpreis ist ein Preis, der mich unendlich freut, ich würde sogar sagen: der wie gemacht scheint für mich. Ich bin St.Galler Bürger, mein Grossvater, der italienische Einwanderer Dino Larese, hat die St.Galler Sagen verfasst, mein Grossonkel, sein Bruder Francesco Larese, hat St.Gallen eine der wichtigsten Sammlungen abstraker Malerei vermacht. Alles ein Geschenk, alles gratis, ohne einen einzigen Steuerfranken hat meine Familie St.Gallen seine Sagen und dazu noch eine millionenschwere Kunstsammlung geschenkt. Da ist meine Arbeit als Theatermacher, da sind der Lehrermord-Skandal, die «City of Change», meine Kolumnen im Saiten, meine Theaterworkshops an der Universität beinahe irrelevant. Ich stehe demütig auf den Schultern dieser St.Galler Riesen und sage: Dieser Preis ist für die ganze Familie!

 

Vielleicht haben Sie davon gehört, aber als ich vor ein paar Jahren einen ähnlichen Preis bekommen sollte – es gibt zwei St. Galler Kulturpreise, einer vom Kanton und einer von der Stadt – wurde behauptet, ich sei eigentlich kein richtiger St.Galler, mein «Fussabdruck» in dieser Stadt sei zu klein. Das bedrückte mich natürlich, ich wollte auf einmal der St.Gallerischste aller St.Galler sein, weshalb ich in die Geschichte meiner Familie schaute. Und ich kann Ihnen sagen: Wären meine Vorfahren nicht St.Galler*innen, sondern zum Beispiel Fussballfans, so wären wir gefürchtete Ultras. Ich bin Ultra-St.Galler, schon mein Grossvater war Ultra-St.Galler und auch meine Töchter sind Ultra-St.Gallerinnen.

 

Aber wie bei Ultras üblich, haben wir und damit eben auch ich den Hang, den Traditionen St.Gallens in übertriebener, man könnte sagen: aggressiver Weise zu huldigen. Für andere mögen zum Beispiel die Geschichten um Gallus oder Wiborada bloss irrelevante, vielleicht sogar fiktive Geschichten aus dem Mittelalter sein. Meine Familie fühlte den Zwang, sie aufzuschreiben und in den Kopf aller Schulkinder zu hämmern als ewige Wahrheiten. Oder nehmen wir die humanistische Tradition unserer Stadt: Sollte jemand den St.Galler Stiftsbezirk, eines der Zentren des spirituellen Abendlands, zu entweihen versuchen, so werden wir eingreifen. Wir können gar nicht anders. Denn wie bei allen Ultras ist unser Fussabdruck, nun ja, im Gesicht aller zu finden, die den Ruf St.Gallens schädigen und die Traditionen unserer Stadt missbrauchen. Wir St.Galler Ultras lassen es nicht zu, dass die Ehre unseres Clubs besudelt wird.

 

Womit ich zum eigentlichen Thema komme: Was ist St.Gallen? Was wollen wir sein? Wer wollen wir sein? Welche Werte sind uns egal, und welche verteidigen wir? Wofür steht unser Club? Als mir klar wurde, dass es diesmal mit dem St.Galler Kulturpreis klappen könnte, begannen diese Fragen in meinem Kopf herumzugeistern. Ich war eine ganze Weile nicht mehr dort gewesen, aber kürzlich führte ich eine kongolesische Freundin, eine Linguistin, durch die Stiftsbibliothek. Vor Schepenese – so heisst der in der Stiftsbibliothek ausgestellte, ausgewickelte Leichnam einer Priestertochter aus dem 7. Jahrhundert vor Christus, der aus Ägypten entführt und heute gegen einen Eintritt von 18 Franken mitten zwischen all den Handschriften bestaunt werden kann – fühlte ich, vielleicht so stark wie noch nie, ein uraltes Gefühl in mir aufsteigen. Es war nicht nur Peinlichkeit, was mich überkam, es war Scham. Und es war auch Ratlosigkeit.

 

Wie, um Gottes willen, sollte ich meiner afrikanischen Freundin das erklären: Schepenese, die nackte, aus Ägypten gestohlene Mumie im Glassarg. Auf einmal wurde mir bewusst, dass die 30‘000 Franken, die ich heute Abend zugesprochen bekomme, auch aus diesen Einnahmen bestehen: den 18 Franken, die die Leute bezahlen, um Schepenese zu bestaunen. Dass ich als Preisträger Anteil habe an dem, was mit dieser Frau dort in der Stiftbibliothek geschieht. Auf einmal sah ich, wie ich zu Beginn der Rede sagte, unter dem Reichtum den Raub, unter der Schönheit die Gewalt und die Perversion versteckt. Was wir St.Galler*innen haben, haben andere nicht. Oder sie hatten es mal, aber jetzt nicht mehr. Und vielleicht sollten wir es ihnen zurückgeben.

 

Bitte seien Sie versichert: Als Nachkomme eines italienischen Einwanderer-Grossvaters, der sich die St.Galler Sagen angeeignet, sie vielleicht sogar erfunden hat, eines italienischen Einwanderer-Onkels, der sich, wie sein Bruder aus dem kulturellen und sozialen Nichts kommend, wie ein Rap-Star die nordische abstrakte Malerei aneignete, als hätte sie ihm schon immer gehört, als Mitglied einer klassischen Migrant*innen-Familie also finde ich Cultural Appropriation völlig okay. Ich bin kein Moralist, kein Purist, ich bin, wie Ihnen wohl viele hier versichern können, mit allen möglichen Widersprüchen vertraut. Ich bin auch nicht religiös geworden. Ich bekreuzige mich nicht, wenn ich den Klosterbezirk betrete. Aber eine tote, gestohlene, halbnackte Frau, ausgestellt in einem Glassarg: Was zuviel ist, ist zuviel. St.Gallen ist alles mögliche, aber kein Drehort für einen Horrorfilm. Monica Hanna, die nach mir sprechen wird, wird das noch etwas genauer ausführen, meine Position ist beschränkt, zufällig bekomme ich diesen Preis, deshalb fasse mich kurz: Wenn wir solche Grenzen überschreiten, hören wir auf, St.Galler*innen zu sein. Wir verraten das Erbe unserer Vorfahren, der ersten St.Galler Arbeitsmigrant*innen – jener belesenen, beschwingten irischen Mönche und Nonnen, die einst in unser kaltes, zugiges Hochtal kamen, um hier eines der Zentren der abendländischen Kultur zu gründen. Wir treten die Flagge unseres Clubs mit Füssen.

 

In Vorbereitung auf diesen Abend habe ich mich viele Male mit Cornel Dora unterhalten, dem heutigen Leiter der St.Galler Stiftsbibliothek. Cornel – der übrigens mit einem Mädchen, heute einer Frau verheiratet ist, mit der ich in den späten 80er Jahren zur Grundschule ging in Dietikon bei Zürich, bevor ich nach St.Gallen emigrierte – Cornel also sagte zu mir in einem unserer zahlreichen Mails und Gespräche, in denen ich viel gelernt habe: «Wie sehr man auch alles erklären will und einordnen ins Reich der Dinge, es bleibt doch immer ein platonischer Rest.» Dieser platonische Rest steht hier zur Debatte – vielen Dank für dieses Wort, Cornel, ich glaube, ich kann es als «Idee» übersetzen, nicht wahr? Ja, es ist die Idee «St.Gallen», die hier zur Debatte steht und nach der dieser Preis ja bezeichnet ist. Denn «St.Gallen» ist nicht nur ein Ort, den man auf der Karte zeigen kann, es ist auch eine Überzeugung, ein Humanismus, eine Würde, eine Tradition, die wir nicht, die wir nie verraten dürfen – und vor allem nicht heute Abend. St.Gallen ist eine Möglichkeit, ein Gespräch, das nie abgeschlossen ist.

 

Deshalb kann ich meinen Preis nicht behalten, sondern muss ihn zurückgeben an meine Heimat: an die Idee genauso wie an den Ort, an die Stadt, den Kanton genauso wie an alle Menschen aus über hundert Nationen, die hier, die in «St.Gallen» leben. Vielen Dank, dass Sie mir mit der Verleihung des «Grossen Preises der St.Galler Kulturstiftung» diese Möglichkeit geben. Ich versuche, so würdevoll und demütig von ihr Gebrauch zu machen, wie es für einen Ultra-St.Galler möglich ist. Aber ich bin nur ein einfacher St.Galler, die Expertinnen sind andere, und zum Glücke haben wir eine hier: Monica Hanna, Professorin und Gründerin des Departments für Cultural Heritage an der Arab Academy in Assuan.

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