St. Gallische Kulturstiftung

2018, Frühjahr

Anita Zimmermann

  • aus St.Gallen
  • Anerkennungspreis über Fr. 15000.– für die Region St.Gallen
  • Sparte: bildende Künstlerin

Urkunde

Zeichnend die Welt erforschen, zeichnend Welten schaffen, kleine und grosse, zeichnend Räume durchspannen und Menschen verbinden, darin liegt der Kern von Anita Zimmermanns künstlerischem Werk. Und ebenso wie sie die Grenzen der Zeichnung auslotet und ausweitet, drängt es sie, aus dem eigenen Atelier auszubrechen und gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern, die Kunst hinaus und zu den Menschen zu tragen. Dafür findet sie immer wieder aussergewöhnliche Formate und Orte, sei es ein alter Stollen oder ein Kunstbuch für Kinder zum Selbergestalten. Als Leila Bock wirbelt sie lustvoll, beschwingt und frech durch die Kunstszene und lädt Kulturschaffende und Publikum in Geile Blöcke ein. Die St.Gallische Kulturstiftung zeichnet Anita Zimmermann als Künstlerin wie als Kunstaktivistin mit dem Anerkennungspreis aus.

 

Laudatio von Corinne Schatz, Präsidentin

Ich bin eine Zeichnerin, sagt Anita Zimmermann über sich selbst. Wer sich nun eine Künstlerin vorstellt, die tagein tagaus mit Bleistift und Papier am Zeichentisch sitzt und Linien aufs Papier zieht, täuscht sich allerdings. Was wie die einfache Bezeichnung einer künstlerischen Technik tönt, eröffnet im erweiterten Verständnis, wie Anita Zimmermann es pflegt, Horizonte des Denkens, Planens, Ideen-Entwickelns in alle Richtungen. Ich möchte versuchen, einige dieser Horizonte mit Ihnen zu erwandern. Trotzdem ist es richtig, sie als Zeichnerin zu bezeichnen, denn die Zeichnung ist ihr wichtigstes Medium. Wer Ausstellungen von ihr, z.B. vor zwei Jahren ihre Installation im Architekturforum in St.Gallen gesehen hat, weiss, wie Grenzen sprengend und raumgreifend sie mit diesem Medium umgeht. Lange Papierbahnen hingen dort von der Decke bis zum Boden und legten eine fliessende architektonische Struktur in den Raum. Sie waren bevölkert von Äffchen, von auf Fäden balancierenden Seiltänzern, und allerlei anderen Figuren, die ihrerseits verschiedenste Gegenstände hantierten oder etwas erstaunt auf fliegenden Teppichen durch die Szenerien schwebten. Das Ganze hatte die Anmutung einer Art Zirkuszelt, wo die Schwerkraft aufgehoben schien, aber andere Kräfte und Mächte die Figuren in teilweise prekäre Situationen brachten.

Werfen wir aber einen Blick auf die Anfänge: Anita Zimmermann wurde 1956 in Schaffhausen geboren, wuchs in Bern auf, besuchte dort den Gestalterischen Vorkurs und schloss eine Berufslehre als Dekorationsgestalterin ab. Wenige Jahre später absolvierte sie an der Zürcher Hochschule für Gestaltung eine Ausbildung zur Werk- und Zeichenlehrerin.

 

Dass in ihren Augen Zeichnen auch ein gemeinschaftliches Ereignis sein kann, hat sie mehrfach bewiesen. So lud sie 2011 das Publikum ins nextex am Blumenbergplatz ein, um Josef Felix Müller, Anina Schenker und Fridolin Schoch sowie ihr selbst live beim Zeichnen auf ausrangierten Schul-Wandtafeln zuzusehen. Oder sie organisiert für Gruppen, z.B. ganze Schulhäuser mit 400 Kindern gemeinsame Zeichen-Aktionen. Als Kunst am Bau Projekt erfand sie für das Gerhalden-Schulhaus in St.Gallen das Werkbuch Wenn Schnecken hüpfen könnten, das viel Raum lässt für die Kinder zum selber gestalten.

 

Überhaupt ist ihr die Zusammenarbeit, das Entwickeln von Projekten, die viele Kunst- und Kulturschaffende, aber auch Laien zusammenführen ein besonderes Anliegen und sie lässt darin eine unbändige Fantasie zutage treten, wenn es um die Orte ihres Wirkens wie auch um die Form dieser Projekte geht. Mag sein, dass ihre Mitwirkung als Bühnen- und Kostümbildnerin in der Theatergruppe von Dodo Déer anfangs der 1980er Jahre dafür prägend war. Mag auch sein, dass ihr Talent für ausgefallene Inszenierungen in jenen Erfahrungen wurzelt. So zeichnen sich alle ihre Projekte auch dadurch aus, dass den Besuchern/innen in buntem, skurrilem und fantasievollem Ambiente Speis und Trank angeboten wird. Das leibliche Wohl darf nie vernachlässigt werden, wenn Anita mit von der Partie ist und die Bar ist immer eine Kunstinstallation für sich. Es zeigt sich, dass ihr das plastische, dreidimensionale Schaffen ebenso liegt wie die Zeichnung.

 

Vor dem Bundesverwaltungsgericht steht ein Brunnen, den sie aus übereinandergestellten Kristallgefässen aufbaute und in Aluminium giessen liess. Oft findet sie ihr Material in Brockenhäusern und auf Flohmärkten – alten Dingen neues Leben einzuhauchen und für sie „einen neuen Gedanken“ zu entwickeln, wie Duchamp dies nannte, gehört zu den Grundprinzipien ihres Schaffens. Das konnte man auch im Kulturraum in ihrer Ausstellung „Amtskarussell“ erfahren, wo sie vergessene Gemälde aus der kantonalen Kunstsammlung ans Licht holte und selbst in die Rolle einer aufgetakelten Amtsdame schlüpfte, welche die Besucher aus Selbst-Porträts beobachtete, wenn sie auf einem Bürostuhl ihre Karussell-Runden drehten.

 

Werfen wir aber nochmals einen Blick zurück: Ende der 70er Jahre übersiedelt Anita nach St.Gallen, zu einer Zeit also, als hier Kulturschaffende begannen, auf dem hölzernen Boden der Stadt Kulturpflänzchen zu setzen, welche in den folgenden Jahren zu etlichen neuen Institutionen erwachsen sollten. Eine Stadt im Aufbruch also, aber auch eine Stadt mit einem verriegelten Kunstmuseum. Bald schon gehörte Anita ebenfalls zu jenen, welche mit Fantasie und Eigeninitiative gemeinsam mit Gleichgesinnten ungewöhnliche Orte mit ungewöhnlichen Projekten belebten, z.B. den Herrmann, ein stillgelegter Stollen im Mühletobel, den sie zusammen mit Anina Schenker und Schawalder/Frei mit Ausstellungen und Aktionen bespielte. Es folgten ein Kunstkiosk am Fusse der Mühleggbahn und das Kleine Kunsthaus im Lagerhaus.

 

Ein besonders grosses und folgenreiches Projekt war das Symposium Übersee in Romanshorn im Jahr 2000: das Team mit Ute Klein, Stefan Kreier, Matthias Kuhn, Elisabeth Nembrini und Anita Zimmermann entwickelte ein spartenübergreifendes und den ganzen Bodensee umfassendes Projekt mit Ausstellungen, Vorträgen, Architektur-Reisen, Film, Musik, Literatur, Performances usw. Grenzen sprengend oder besser überschreitend gleich in mehrfacher Hinsicht: geografisch, bezüglich Sparten, vor allem aber im Kopf. Das erfolgreiche Symposium war auch Anlass für ein friendly take over in der Künstlervereinigung visarte.ost; ein komplett neuer Vorstand entwickelte den Projektraum exex (heute nextex). Vor allem zusammen mit Marianne Rinderknecht entwickelte sie dort mehrere Projekte: z.B. die 100 Franken Show, Ostdiamanten und das erste 5*Stern; dafür holten sie Brigitte Kemmann mit an Bord, die seither das beliebte Grossprojekt alle 3 Jahre weiterführt, bei dem Kunstschaffende in der ganzen Ostschweiz dem Publikum ihre Ateliers öffnen.

 

Vor eineinhalb Jahren hat sie wiederum mit Marianne Rinderknecht den Hiltibold erfunden, auch hier wird regionales Kunstschaffen gezeigt – notabene in zwei Nischen in einer alten Stützmauer. Das ist toll – aber das kann nicht genügen, meint die Künstlerin dezidiert. So ist die treibende Motivation bei all diesen Projekten, das Schaffen der in der Region tätigen Künstlerschaft sichtbar zu machen. Eine Aufgabe, die – wie sie sagt – eigentlich in den Händen der Institutionen und ihrer Leitungen liegen müsste und wofür nicht nur ihr das alle drei Jahre stattfindende Heimspiel nicht genügt. Dafür hat Anita Zimmermann Leila Bock ins Leben gerufen, ihr Alter Ego, die seit drei Jahren wie ein Wirbelwind durch die Ostschweizer Kunstszene fliegt und mit Geilen Blöcken Aufmerksamkeit erregt. Der erste fand 2015 in Rotmonten statt, in einem leerstehenden Beton-Wohnhaus aus den 60er Jahren – „ein geiler Block“, wie die Künstlerin fand und dies zum Titel der Ausstellung nahm, zu der sie Künstlerinnen und Künstler aus Region, der Schweiz und dem Ausland einlud.

 

Letzten Sommer hat der zweite Geile Block im «Cornelia Versandhaus» in Trogen stattgefunden, für einen Monat zog Leben ein in das lange ungenutzte grosse Gebäude, das ihr zuvor als Atelier zur Verfügung gestellt worden war. In der Bar trafen sich Nachbarn, Künstler und Gäste, im Saal wurden Schnörkeltexte vorgetragen. Ja, Schnörkel haben es der Künstlerin sowieso angetan. Der Schnörkel ist für sie Ausdruck von Lebenslust, Kreativität und steht der Nüchternheit entgegen, die in der Stadt St.Gallen im Übermass vorherrsche. Da müssen Schnörkel her, es muss fantasiert, es sollen Ideen entworfen, lange gehegte Wünsche formuliert und natürlich realisiert werden. Leila Bock hat ihre aufmüpfige Stimme erhoben, getraut sich Dinge zu sagen, die Anita weniger wagt. Sie reklamiert Raum für die Kunst, sie will die Lokremise für die regionalen Kunstschaffenden erobern, wie sie anlässlich einer Umfrage im Kulturmagazin Saiten schrieb.

 

So setzt auch ihr letzter Auftritt ein Zeichen. Da hockt er, der Hock, resp. die in Kunstkreisen bestens bekannte Dogge Idda – überlebensgross aus Styropor geschnitten und blau bemalt, hockt auf einer Bauparzelle am Mühlesteg und guckt majestätisch auf die Stadt hinunter. Nicht wie ein scharfer Wachhund, sondern eher neugierig und freundlich, wie halt das lebende Vorbild. Ohne die vielen Projekte von Anita, alias Leila und ihren Freundinnen und Freunden wäre es wesentlich langweiliger in dieser Region. «Kunst ist wichtig. Und wichtig ist auch, dass wir stolz sind auf unsere Künstler», sagen Leila Bock und Anita Zimmermann – heute ist ein Anlass, unseren Stolz mit einem Anerkennungspreis zum Ausdruck zu bringen.

http://anitazimmermann.kleio.com