St. Gallische Kulturstiftung

2004, Frühjahr

Urs Richle

  • aus Genf
  • Anerkennungspreis über Fr. 10000.– für die Region Toggenburg
  • Sparte: Schriftsteller

Urkunde

Urs Richle erhält den Anerkennungspreis 2004 der St.Gallischen Kulturstiftung für sein gesamtes bisheriges literarisches Schaffen, insbesondere im Bereich der Belletristik. Auffallend sind die Unkonventionalität seiner Sprache und seine besondere Erzähltechnik, ebenso seine präzisen Beschreibungen und Recherchen. Besonders zu würdigen ist auch die spezifische Dramaturgie seiner Werke.

Laudatio, von Markus Linder, Stiftungsrat

Geschätzter Urs Richle, geschätzte Angehörige, Freundinnen und Freunde von Urs Richle, geschätzte Damen und Herren

 

Die St. Gallische Kulturstiftung verleiht heute auch dem Schriftsteller Urs Richle einen Anerkennungspreis. Er erhält den Preis für sein gesamtes bisheriges literarisches Schaffen. Urs Richle hat hier in diesem Tal, im Toggenburg, seine Wurzeln und ist emotional auch noch stark mit dieser Gegend verbunden. Er wurde 1965 in Wattwil geboren, wuchs hier auf, ging hier zur Schule, besuchte hier die Seminar-Abteilung der Kantonsschule Wattwil und liess sich zum Primarlehrer ausbilden. Lange übte er diesen Beruf nicht aus; bereits nach einem Jahr Lehrtätigkeit zog es ihn 1989, in einem Jahr des enormen Umbruchs in Europa, weg nach Berlin, in jene Stadt, in der wohl wie in keiner anderen dieses Kontinents der Umbruch mit dem Fall der Mauer sich fokusierte. Seit 1993 lebt und wirkt Urs Richle in Genf, auch hier also in einer Stadt, die wie Berlin international geprägt ist und in der Engstirnigkeit und Abschottung nichts zu suchen haben. Urs Richles literarisches Schaffen hat bereits einen respektablen Umfang angenommen; er schrieb und schreibt Romane, Erzählungen, Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke. Und der heutige Preis ist nicht der erste, den Urs Richle erhält: 1994 erhielt er den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für den Roman „Mall oder das Verschwinden der Berge“, 1999 den Drehbuchförderpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft für den Spielfilm „Späte Heirat“ und 2001 den 1. Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung.

 

Urs Richle begann nicht hier zu schreiben, sondern in Berlin. 1992 erschien sein erster Roman „Das Loch in der Decke der Stube“. Die Handlung spielt im ländlichen Raum in der Schweiz, in einer Gegend also, die Richle doch noch sehr nahe lag, als er zu schreiben begann. Die Geschichte von Paul Zoll, der in einem kleinen Dorf in Intrigen und Verdächtigungen hineingerät und letztlich der Schweiz den Rücken kehrt und nach Berlin reist, dort aber das Vorgefallene nicht hinter sich lassen kann, zeigt doch sehr gut, wo Urs Richle jeweils ansetzt. Er geht aus von Ereignissen, von Erlebnissen, von Bildern, Figuren, die ihn interessieren, und baut auf diesen Grundlagen auf. Während er bei den früheren Werken zu Beginn der Textproduktion nicht so genau wusste, wohin die Reise gehen würde (er sagte mir im Gespräch: „Ich habe da oft ins Dunkle hineingeschrieben“), legte er sich die späteren Werke mehr zurecht. Im Einklang zum Verfassen von Drehbüchern plante er nun die Dramaturgie seiner Werke. Dieses Vorgehen ergab dann Texte mit klarem, ja vielleicht manchmal etwas zu klarem Aufbau. Urs Richle bemerkte dies selber auch: Er möchte wieder „intuitiver schreiben“, wie er mir erzählte, er möchte sich wieder von mehr kreativer Freiheit leiten lassen, er möchte von der strengen Dramaturgie, die manchmal auch blockierend wirken könne, wieder etwas Abstand nehmen und lieber — Zitat — „aus dem Impuls heraus schreiben.“ Lieber Urs Richle, wir sind gespannt, was uns da erwartet, auf jeden Fall scheint es, als werde so etwas wie eine neue Phase Ihres literarischen Schaffens eingeläutet.

Nun, welche Eindrücke hat man denn, wenn man Urs Richles Werke liest? Richle ist ein überzeugender Erzähler, er bleibt bei der Sache; Aufgeregtes, Schnörkel, unkontrolliertes Abschweifen sind seine Sache nicht. Er versteht es hervorragend, Stimmungen, Orte und Menschen zu beschreiben, man erkennt ohne weiteres eine eigenständige, unkonventionelle Erzähltechnik, sie ist präzise, flüssig und anschaulich, bisweilen überaus subtil und — ich bezeichne es mal so — die „Umgebung der Figuren“ ist genau recherchiert. Das kann den Leser fesseln, gerade wenn dann noch Handlungen hinzukommen, mit denen er nicht rechnet, mit denen Richle zu überraschen vermag. Kommt hinzu, dass viele Werke eine höchst interessante Struktur aufweisen, „dramaturgisch höchst effektvoll“, hat das ein Kritiker genannt.

Heute ist Urs Richle an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt, um unseren Anerkennungspreis entgegenzunehmen. Er ist für einen Moment zurückgekommen in dieses Tal, von dem er Ende der 80-er-Jahre Abschied nahm. „Der Enge entfliehen“ — das war bei Urs Richle dannzumal ein zentrales Thema. Er ertrug damals die irrationale Nähe, wie er sie in seinem Text „Berlin einfach“ bezeichnet, nicht mehr, die Bewohnerinnen und Bewohner hier bezeichnete er als „orwell’sche Big-Nachbarn“. Geschätzte Damen und Herren, ich möchte Ihnen den Schluss dieses Textes nicht vorenthalten, er spricht einfach für sich:

„Jeder einzelne sitzt in seiner Zelle und weiss nie, wann er von wem wie beobachtet wird. Diese mögliche Dauerkontrolle, die das panoptische Gefängnis so sicher machte, regelt im Dorf persönliches Verhalten im Einzelfall. Die ständige Angst, von allen anderen be- und verurteilt zu werden, wird über das praktische Mittel der Freundlichkeit reguliert und unter Kontrolle gehalten. Das führt dazu, dass alle nett und freundlich zueinander sind, obwohl eigentlich alle im Krieg miteinander stehen. Der Roman DAS LOCH IN DER DECKE DER STUBE war für mich ein Versuch, dieses Prinzip der Verhaltensregulierung zu verstehen, mit dem Ziel herauszufinden, warum ich damals im September 1989 um jeden Preis Richtung Osten auswandern wollte, während Tausende von Menschen genau in die Gegenrichtung zogen. Es war auch ein Schritt, um auf die Schweiz als Ort, in dem ich aufgewachsen bin, wieder zuzugehen. Dass es dabei literarisch für mich nicht um eine Attacke gegen das politische System Schweiz gehen konnte, war von Anfang an klar. Es ist ein Blick auf ein persönliches Erlebnis, in der Hoffnung, dass er auch ausserhalb meines eigenen Interesses Fragen aufwerfe.“

Geschätzter Urs Richle; diese Hoffnung hat sich erfüllt; Ihr Schaffen und Ihre Werke sind nicht innerhalb Ihres eigenen Interesses geblieben, sie haben eine respektable Breite erreicht, Sie gehören zu jenen Schweizer Autoren, die man gelesen haben muss. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des Stiftungsrates der St. Gallischen Kulturstiftung ganz herzlich und freue mich, Ihnen nun den Preis und die Urkunde überreichen zu dürfen.

http://www.ursrichle.ch