St. Gallische Kulturstiftung

2016, Frühjahr

Stefan Vollenweider

  • aus Rapperswil
  • Anerkennungspreis über Fr. 15000.– für die Region See-Gaster
  • Sparte: bildender Künstler

Urkunde

Ausgraben und Umkehren, Hervorholen und Verwandeln, Sammeln, Ordnen und Vernetzen, diese Tätigkeiten umschreiben die vielfältigen Schaffensweisen des Künstlers Stefan Vollenweider. Mit ebenso analytischem wie poetisch-assoziativem Blick beobachtet der Künstler die vom Menschen gestaltete Umwelt. Sein Schaffen entwickelt sich konzeptuell und prozesshaft aus der kontinuierlichen Sichtung des Vorhandenen und der Verknüpfung mit Neuem. Er überführt das Gesammelte in Werke, die in Inhalt, Form und Technik von einer ausserordentlichen Vielfalt geprägt sind und Zeichnungen, Texte, Objekte, Installationen sowie Performance und Interventionen im öffentlichen Raum umfassen.

Für die Vielseitigkeit und Intensität seines künstlerischen Schaffens zeichnet die St.Gallische Kulturstiftung Stefan Vollenweider mit einem Anerkennungspreis aus.

 

Laudatio von Corinne Schatz, Präsidentin

«Nur eine Frage ermöglicht eine Konversation», wird Stefan Vollenweider in einem Artikel von 1998 zitiert. Damals führte er in der Rapperswiler Altstadt zwei winzige Kunsträume, die er «Affiche 1» und «Affiche 2» nannte. Der eine war nur ein kleines Schaufenster, der andere ein ehemaliger Kiosk, den er auch als Schaufenster-Studio bezeichnete, da er zeitweise darin arbeitete. Bereits in den 1980er Jahren hatte er an der Merkurstrasse 20 in Rapperswil ein offenes, einsehbares Studio geführt und das Fenster für diverse künstlerische Auslagen genutzt. In, manchmal auch vor diesen Schaufenstern präsentierte er diverse teils gefundene, teils gestaltete Objekte, zum Beispiel ein gerahmtes Stück Birkenrinde, das die Anmutung einer chinesischen Landschaftsmalerei machte, hängte Zeichnungen und anderes auf oder klebte sie direkt an die Scheibe, wie einen Becher mit Käsestücken, die langsam in der Sonne dahinschmolzen und so einen plastischen, will heissen skulpturalen Prozess sichtbar machten. Diese kleine Intervention ist bezeichnend für Vollenweiders Schaffen, das weniger auf die Realisation von Werken im klassischen Sinne ausgerichtet ist, sondern viel mehr auf Prozesse und auf die Kreation von zeitlich begrenzten Situationen.

 

Stefan Vollenweider wurde 1950 in Kaltbrunn geboren. Er bildete sich zum Zeichenlehrer an der Schule für Gestaltung in Zürich aus. Er lebt und lange arbeitete er in Rapperswil und entwickelte hier viele seiner künstlerischen Aktivitäten. So gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der IG Halle in der Alten Fabrik. Seit einigen Jahren pendelt er zu seinem Atelier in Zürich.

 

«Ein Kunstwerk existiert dann, wenn der Betrachter [die Betrachterin] es angeschaut hat. Bis dahin ist es nur etwas, das gemacht worden ist, und wieder verschwinden kann, ohne dass jemand davon weiss …» (Marcel Duchamp) Dieser Satz könnte wie als Leitsatz hinter den vielen Projekten stehen, die Vollenweider im öffentlichen oder halböffentlichen Raum realisiert hat. Dazu kam 2001 auch das «Carré d’Art», ein Leuchtkasten am Einkaufszentrum Sonnenhof, den er über zehn Jahre lang bespielte. Wie kann man ein Werk schaffen ohne Kunst zu machen, fragte sich Marcel Duchamp auch, und erfand das ready made – davon gibt es viele in Vollenweiders Arbeit. In seinen Notizen, die er mir zur Verfügung stellte, findet sich der Hinweis auf ein Buch des Musikers Derek Bailey: «Improvisation: Kunst ohne Werk.» Diese Umkehrung von Duchamps Aussage umschreibt sehr gut Vollenweiders Schaffensweise. Sein Atelier ist weniger ein Werk– als ein Denkraum. Wenn er morgens hinfährt, trägt er eine Schachtel mit Skizzen, Notizen, Zeitungsartikeln, und vieles mehr mit sich. Das ist das «Material», mit dem er arbeitet. Es wird gesichtet, gelesen, sortiert, mit Texten und Zeichnungen ergänzt. Die künstlerische Arbeit besteht weniger darin, fertige Werke zu schaffen, sondern in erster Linie sich in einem Prozess zu bewegen, der bei Gelegenheit, z.B. für eine Ausstellung zu einer Werksituation kristallisiert. So vermitteln seine Ausstellungen oft den Eindruck einer Momentaufnahme von einem Werkplatz, in dem gearbeitet wird oder jederzeit die Arbeit aufgenommen werden könnte. Buchstäblich war dies so im 1996 mit Raphael Gloor entwickelten Projekt «Versuch einer Baustelle», einem 92-stündigen Happening in Kooperation mit dem Architekturforum Obersee, wo Architekten/innen an vorbereiteten Werkplätzen verschiedene, vorgegebene Aufgaben zu lösen hatten.

 

Aber auch in der Ausstellung 2003 in der IG Halle mit dem poetischen Titel «Mit dem Panoramawanderstab»: Im Raum stand eine Art Baracke, eine Nachbildung seiner Garage, gefüllt mit diversen Objekten, gefundenen und selbst geschaffenen, mit Materialien und Spuren aller Art. Eigentlich ein Lager, wie man es in den meisten Künstlerateliers findet, bereit, um gleich die Arbeit aufzunehmen. Darum herum hingen Zeichnungen und Digitaldrucke von Alltagssituationen, die er auf seinen Wanderungen durch das urbane «Panorama» fotografisch und mit der Super-8-Kamera dokumentiert. In seiner Ausstellung 2011 der IG-Halle im KunstZeughaus wies schon der Titel «Sortierungen von A bis Z» auf sein prozesshaftes Vorgehen hin. Zu sehen waren Zeichnungen, grosse Aquarelle und Linoldrucke, Installationen aus dem Fundus «Bauschutt» – und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, Filme sowie Dokumentationen von Interventionen im öffentlichen Raum. Schon vor dem Haus wurde man von einer grossen Bodenzeichnung empfangen, die – obwohl als vergänglich gedacht – noch heute sichtbar ist. Ein zweidimensionaler Raster, der in eine perspektivisch evozierte Dreidimensionalität mutiert. Hier ist auch seine Arbeit in der Bahnhofsunterführung in Rapperswil zu nennen: «See-Level». Die 2000 entstandene blau-weisse Gestaltung der SBB-Unterführung des Bahnhofs Rapperswil markiert Orte auf der Welt, die dieselbe Höhe von 405,5 m über Meer wie der Zürichsee teilen: Kami Sokeshi (Japan), Kautokeini (Norwegen), Kalashnikovo (Russland), Radulovo Brdo (Serbien), Slatinka (Slovenien), Kazakalé (Togo), Princetown (United Kingdom), Travancinha (Portugal), Poggio Santa Cecilia (Italien) und andere.

 

Ein besonderes Interesse bringt Stefan Vollenweider allem entgegen, das mit Bauen, resp. der gebauten Umwelt zu tun hat. Dabei sind es vor allem ambivalente Übergangssituationen, in denen unklar ist ob sich etwas im Aufbau oder im Zerfall, resp. im Abbau befindet. Hier ist eine Fotografie bezeichnend, die er vom Fernsehbildschirm aufgenommen hat: Man sieht auf dem Boden eine Reihe von ausgelegten Brettern. Dazu liest man im Untertitel: «Sieht schon fast aus wie ein Haus, nicht?» Das heisst, es geht um die Vorstellungskraft. Der Künstler legt uns Dinge, Bilder, Zeichnungen, Material, Objekte vor und es liegt an uns und unserer Imagination, daraus Erkenntnisse über unsere Umgebung und unsere Wahrnehmung zu gewinnen, zu konstruieren, innerlich zu «bauen», aber auch einen bewussten und kritischen Blick zu entwickeln.
Die Werke von Stefan Vollenweider sind eigentlich Werkzeuge, Werkzeuge zur Analyse, zur Vermessung der Welt, der Gedanken, der Imagination, der Wahrnehmung, des Alltags, unserer Umgebung … und Werkzeuge zur Kommunikation.

 

In diesem Sinn sammelt er auch Begriffe, die er handschriftlich mit lexikalischen Erläuterungen ergänzt, oder Zitate aus Literatur und verschiedensten, z.B. wissenschaftlichen Texten, die mit der Wahrnehmung unserer gestalteten Umwelt zu tun haben. So las er in einer nur dreitägigen Ausstellung im Raum der Zürcher visarte aus Gottfried Kellers «Der Grüne Heinrich» vor, der zahlreiche, differenzierte Beschreibungen von architektonischen Situationen, zum Beispiel Dächerlandschaften enthält. Ein anderes Beispiel daraus: (Beschreibung der Burgruine Zwing Uri) «Die Trümmer waren durch einige Stangen- und Brettergerüste so bekleidet, als ob sie eben im Aufbau statt im Verfalle wären.» Als Installation hatte Vollenweider in den Raum zwei Wellblechelemente vom Dach eines alten Veloständers wie eine temporäre Baustellen-Abschrankung in den Raum gestellt. Das Undefinierte, Unentschiedene und Provisorische in solchen Situationen interessiert den Künstler.

 

Ein wichtiges Ausdrucksmittel ist auch die Zeichnung. Er schreibt dazu: «Die Zeichnung ist eigentlich fast immer irgendwie eine Begleitarbeit, auch beim Denken.» Trotzdem betont er, er sei kein «Zeichner», genauso wie er sich lange sträubte als «Künstler» bezeichnet zu werden. «Das Medium richtet sich nach der Intention», schreibt er. Die Zeichnung ist Teil des Gedankennetzes, des systemischen Denkens. Er bezeichnet sie auch als eine Art schöpferische Geografie, die unzusammenhängende Dinge zu einer Einheit verbindet. Man könnte mit Max Ernst ergänzen: «… je unerwarteter sich die Elemente zusammenfinden, umso überraschender ist der jeweils überspringende Funke Poesie.» So versteht Vollenweider eine Zeichnung nicht als abgeschlossenes Werk, als Bild, sondern eher als Mittel zur Standortbestimmung, als Bezugspunkt zwischen seiner Arbeit und der Situation, in der diese gezeigt wird, auch bezüglich der Gesellschaft als Ausdruck einer Haltung.

 

Es ist bezeichnend, dass Stefan Vollenweider immer wieder die Kooperation mit anderen Kunstschaffenden sucht. Um nur einige zu nennen: die Kunsthalle St.Gallen präsentierte 1990 ein Gemeinschaftswerk mit dem Künstlerpaar stöckerseelig, 1994 lud er zu einer «Conférence permanente», die auf Künstlertreffen in verschiedenen Schweizer Städten basierte, oder kuratierte zusammen mit Aldo Mozzini die Ausstellung «La nuit américaine» mit Beiträgen von Bob Gramsma, Guggisberg/Lutz, Hannes Rickli u.a. Mit seiner Frau Gabriela Scherrer trat er in den 1980er und 90er Jahren in Performances auf, sie mit Musik und Tanz, Stefan mit Dia- und Super-8–Projektionen. Und es erstaunt nicht, dass jemand, der so vernetzt und kommunikativ denkt, auch in der Lehre, in der Vermittlung nicht nur einen Brotjob, sondern eine wichtige und erfüllende Aufgabe sieht. So unterrichtete er an der F+F in Zürich, an der Rapperswiler Hochschule für Technik und bis zur Pensionierung anfangs Jahr an der Schule für Gestaltung in St.Gallen.

 

Stefan Vollenweiders Werk, resp. Werksituationen sind eigentlich transitorische Modelle, sie geben einen Moment wieder aus einem stetigen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Gegebenen. Und er bietet sie uns als Fragestellungen an, auf dass wir selbst mit fokussiertem Blick betrachten und analysieren, wie wir unsere Umwelt gestalten.

http://www.stefanvollenweider.com