Sebastian Ryser zählt zu einer neuen Generation von Puppenspielern: Schon in seinem Debüt als Regisseur mit «Ente, Tod und Tulpe», einem Kinderstück über das Sterben, kombinierte er im Jahr 2014 Puppenspiel mit Filmprojektionen. Das gekonnte Verweben der alten Ausdrucksform mit neuen Medien zeichnet das Schaffen von Sebastian Ryser aus. Er greift als Regisseur gesellschaftsrelevante Themen wie die Klimakrise oder Gender-Performativität auf und übersetzt sie in hochstehende, zuweilen radikale Puppentheaterstücke für Erwachsene. Mit seinen Inszenierungen bereichert er die freie Schauspielszene der Ostschweiz und darüber hinaus. Sebastian Ryser wird für sein innovatives Schaffen im Bereich des zeitgenössischen Figurentheaters in Kombination mit neuen Medien mit einem Förderpreis ausgezeichnet.
Lieber Sebastian
Liebe Anwesende
In Puppet Playground, der vor zwei Jahren begonnenen Kurzfilmreihe von Sebastian Ryser – wir haben sie eben zu sehen bekommen – verschwindet die Grenze zwischen der Puppe und der Performer:in: Im ersten Film sind es die aufwendige Maskerade der Performer:in Freda DIN und ihre langsamen, kontrollierten Bewegungen, die sie künstlich, puppenhaft machen. Der schnelle Schnitt verstärkt das Ganze: Aneinander gereihte Naheinstellungen, die den Körpern entlangwandern, Fragmentierungen, vom kratzigen Sound des Musikers Benjamin Ryser unterstrichen, sowie Unschärfen und Überblendungen. Die Performer:in führt die Puppe und verleiht ihr einen Kopf und dann, ein paar Sekunden später, hält die Puppe den starren, klar konturierten Kopf der Performer:in. Es sind diese durchaus unheimlichen Momente – die Gleichzeitigkeit von lebendigem Körper und toter Puppe – die das subversive Potential dieser Sparte aufzeigen. Die Subversion treibt Sebastian Ryser in der Verwendung des Mediums Film meisterlich auf die Spitze.
Und er verwickelt eine zweite Verwandlung darin, die Genderperformativität: Geschlecht als soziokulturelles Konstrukt, das genauso spielerisch konstruiert und dekonstruiert werden kann: Drag Queen Freda DIN schlüpft in verschiedene glamouröse Rollen, mal mit Federmantel, mal als Harlekin oder ‚Harlequeen’ mit überlangen Wimpern.
Im zweiten Film durchläuft der Harlekin mit pinkem Umhang und silbernem Kragen eine Verpuppung. Er trägt Ton auf sein Gesicht auf und deformiert, abstrahiert den Kopf mit dem weichen Material, bis er selbst puppenhafte Züge erhält.
Puppet Playground ist ein Spielfeld für den Puppenspieler und Regisseur Sebastian Ryser: Die nicht gescripteten Kurzfilme bilden den idealen Rahmen für Experimente mit unterschiedlichsten Materialien und deren Wirkungen. Sie sind eigentliches Übungsfeld, um sich einen Grundstock an Wissen aufzubauen, das er als Regisseur in kommenden Projekten weiter ausloten kann. Die Kurzfilme sind Forschungsarbeit im zeitgenössischen Figurentheater.
Im ersten Film erhält die Puppe ein paar Momente Lebendigkeit, bis sie schliesslich dramatisch fallen gelassen wird und nur noch Material ist. Solche Kippmomente des Beseelens von etw. Leblosem und wieder Fallen-Lassens untersucht Sebastian Ryser.
Sebastian Rysers Kindheit war geprägt vom Blick auf die Bühnen dieser Stadt. Tobias Ryser, sein Vater, leitete Jahrzehnte lang das Figurentheater St.Gallen. Sebastian und seine Geschwister Franziska und Benjamin sahen jedes Stück mehrfach – vor und hinter der Bühne. Sein Erststudium führte Sebastian Ryser nach Zürich: Von 2011-2017 studierte er Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. In derselben Zeit gründete er zusammen mit anderen jungen Kulturschaffenden das Kollektiv e0b0ff. Seither werden in unterschiedlichen Konstellationen Theater-, Tanz- und Filmproduktionen realisiert. 2017 zog es Sebastian Ryser nach Berlin, wo er sich an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch für zeitgenössische Puppenspielkunst einschrieb. Er diplomierte 2021.
Während der Studienzeit verfasste Sebastian Ryser immer wieder Theaterbesprechungen. Die Faszination des Puppentheaters beschrieb er einmal präzise im Kulturmagazin Saiten: « […] jener Kippmoment, in dem das leblose Material vor den Augen des Publikums zu einem denkenden und handelnden Subjekt wird. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind dabei Komplizen dieser Verwandlung: Denn nur durch deren Fantasie wird das Objekt zu einer eigenständigen Bühnenfigur. Ein Vorgang, der Erwachsene genauso wie Kinder in helles Erstaunen versetzen kann. » (Saiten, Grosse Klappe, 16. Februar 2017)
Spuren des Arbeitens mit Film sind bereits in Sebastian Rysers Debüt als Regisseur angelegt: 2014, also noch vor seinem Studium im Berlin, inszenierte er am Figurentheater St.Gallen Ente, Tod und Tulpe. Das Kinderstück über das Sterben basiert auf einem Bilderbuch von Wolf Erlbruch. Damals steuerte Musiker Elias Raschle live Filmprojektionen mit Licht, Wasser und Schatten bei.
Was ermöglicht das Verweben der alten Ausdrucksform mit Film, fragte ich Sebastian. Er entgegnete, das Filmen liefere ganz andere Perspektiven, eine Puppe von oben aufzunehmen etwa. Ein Objekt lasse sich mit einer Kamera ganz anders erkunden – näher, direkter – als auf der Bühne, wo immer eine grössere Distanz da sei zwischen der Puppe und den Zuschauenden. Dennoch, sagt Ryser, mache er nicht Filme, sondern suche neue Möglichkeiten für das Figurentheater, andere theatrale Zugänge.
Somit: Zurück auf die physische Bühne. Letzten Herbst hat er am Figurentheater St.Gallen Romeo & Julia von Shakespeare inszeniert. Es war seine Abschlussarbeit an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Die Zuschauer:innen versetzte Ryser kurzerhand ins Institut für anrührende Liebesgeschichten, genau genommen ins dortige Archiv und gab witzige Einblicke in Inszenierungen von Romeo & Julia von unterschiedlicher Qualität und aus verschiedenen Jahrzehnten. Dabei legte er die Implikationen dieses Stückes Weltliteratur auf unsere Vorstellung von Liebe offen. Und vor allem: Er bot einen frischen Blick auf den Liebesmythos, etwa durch die geschickte Kombination mit filmischen Möglichkeiten: In mehreren kurzen Projektionen wurde Shakespeare im Original zitiert. Zur sprachlichen Fremdheit, die der 400-jährige Text heute für uns hat, gesellte sich eine leichtfüssige visuelle Ebene: Romeo flitzte als Supermario durchs Bild und die Game-Ästhetik der 90er-Jahre erlebte ein Revival.
Mit seinen Inszenierungen für Kinder und für Erwachsene bereichert Sebastian Ryser die freie Schauspielszene der Ostschweiz und darüber hinaus. Ich freue mich, dass heute eine Sparte, die bis anhin nicht im Fokus der Kulturstiftung stand, geehrt wird. Ich freue mich sehr, Sebastian Ryser für sein innovatives Schaffen im Bereich des zeitgenössischen Figurentheaters in Kombination mit neuen Medien mit einem Förderpreis auszuzeichnen.
https://sebastianryser.ch