Alles ist Sprache. Die Sprachwelt von Sarah Elena Müller bildet das Leben in der Vertikalen bis in seine Abgründe ab. Das geht buchstäblich unter die Haut. Mit sorgfältigem Röntgenblick spürt die Autorin in ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» das Unsagbare auf und macht aus ihren Recherchen einen Spielraum für die Figuren. Den sprachlos machenden Ereignissen begegnet sie mit radikaler Präsenz, unentrinnbar und mit tiefgründig humanistischem Gespür. Sie erklärt nicht, sie stellt die Dinge hin, und dies in fotografischer Präzision. Müllers Sprache hat eine Macht, die etwas mit uns macht. Das fährt direkt ins Gemüt und macht nachhaltig nachdenklich. Die Sprachkünstlerin wendet sich spartenübergreifend vielen Formen von Text und seiner Musikalität zu. Mit ihrer Sprache wirft sie einen neuen Blick auf die Welt.
Im Schummerlicht seines Zimmers spielt ein Kind mit seinem Kassettenrekorder. Mit dem Mikrofon in der Hand versucht es seine Geschichte aufzuzeichnen, doch als es die Kassette abspielt, ist nicht mehr als ein Rauschen zu hören:
Das Rauschen der leeren Kassette dröhnt in seinen Ohren. (…) Dieses ungeduldige Schnappgeräusch, wenn die Kassette zu Ende ist, und dann der Hohn. Deine Geschichte wurde nur erlebt, nicht gehört. (BoM, S. 36)
Diese Szene aus Sarah Elena Müllers Debütroman Bild ohne Mädchen, eine Szene, die erzählt, dass etwas nicht erzählt werden kann, enthält bildstark die Poetik des Romans über den sexuellen Missbrauch an einem Kind, der von seinem Umfeld hartnäckig übersehen und überhört wird. Was das Kind in der Wohnung des Nachbarn Ege, einem erfolglosen Medientheoretiker, auf dem Fernseher sieht und in welch selbstgedrehten Filmen es mitspielen soll, wollen die Eltern gar nicht so genau wissen; dem Kind selbst fehlt die Sprache und die «richtigen Zusammenhänge» (BoM, S. 58), so heisst es im Roman, um in Worte zu fassen und den Eltern zu vermitteln, was ihm dort widerfährt. Immer mehr zieht sich das Kind in die eigene Fantasiewelt zurück, ins Reich der inneren Bilder. Dabei wird ein Engel zum unsichtbaren Freund, zum Schutz- und Racheengel des Kindes, der es als Einziger wirklich sieht, während die Erwachsenen in einer intrikaten Choreographie von Blicken über es hinweg und durch es hindurchsehen, es dabei übersehen, verkennen, verdinglichen und missbrauchen.
In Bild ohne Mädchen, 2023 beim Limmat Verlag erschienen und im gleichen Jahr auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises landete, stellt Sarah Elena Müller den (gewaltvollen) Blicken der Erwachsenen die Perspektive des Kindes gegenüber. Diese kindliche Perspektive, die erzählend Zeugnis ablegt über die Gewalt, die das Kind erfährt, verbindet sich mit der Frage nach der Sprachlosigkeit des Kindes bzw. die Schwierigkeit, eine sprachliche Vermittlungsebene für das Erlebte zu finden. Das Kind, das selbst nicht genau versteht, dass das, was Ege mit ihm macht, sexueller Missbrauch ist, noch, wie es sich dagegen wehren könnte, kann auch von den Erwachsenen nicht verstanden werden.
Sowohl psychologisch als auch poetologisch operiert der Text dabei mit Metaphern des Medialen: Die Filme und Videokassetten beim Nachbarn, die Familienfotografien bei der Großmutter, das Spiel mit den Audiokassetten im Kinderzimmer. Wenn die primäre Funktion der Medien – analog zum menschlichen Gedächtnis – das Aufzeichnen und Speichern von Tönen, Bildern, Zeichen ist, so wird im Roman mittels der Medien stets auch darüber reflektiert, was aufgezeichnet wird und was nicht. Aus welcher Perspektive aufgezeichnet wird? Und aus welcher nicht?
Bis fast zum Ende des Romans ist der sexuelle Missbrauch das vielfach umkreiste und suggerierte, aber lange Zeit nicht erzählte Geschehen des Romans. Weniger die kindliche Sprache als vielmehr die Ungeheuerlichkeit dieses Missbrauchs verhindert, so legt der Text nahe, dass das Kind davon aus nächster Nähe erzählen könnte. Statt vom Missbrauch aus der Gegenwart zu erzählen, wird er deswegen nachträglich erzählt. Als sich das Kind, das nun zu einem Mädchen herangewachsen ist, Jahre später in Eges Wohnung schleicht, gelingt es ihm, an seinem Computer die zusammenhanglosen Bilder in ihm drin, die ganzen „zerhackten Zusammenhänge“, erneut zusammenzufügen.
Dort, im Betrachten des Kindes, das es selbst war, übernimmt es den Blick des Täters, der im Gegensatz zum seinem eigenen aufgezeichnet wurde. Erst nachträglich, wie von aussen, erkennt das Mädchen so das eigene Trauma. Oder anders formuliert: Erst durch die nachträgliche mediale Wiederholung des Missbrauchs, kann das Mädchen das dem Verdrängen anheim Gefallene erkennen.
In einem komplexen Spannungsfeld von Trauma, Erinnerung und Medialität beschreibt der Roman Bild ohne Mädchen, wie lange ein Missbrauch von Angehörigen und Opfern unentdeckt bleiben kann; als Vorgang, der sich direkt vor den Augen und trotzdem unterhalb der Wahrnehmungsschwelle abspielt, aufgrund innerer, psychischer Widerstände sowie aufgrund gesellschaftlicher und sprachlicher (!) Tabuisierungen, die verhindern, die eigentlich offensichtlichen Zusammenhänge zwischen den wortlosen, verkörperten Zeichen herzustellen.
Dieser Gewalt, die immer auch eine Gewalt der (Erzähl)Perspektive ist, hält die Autorin die Erzählung aus der Perspektive des Kindes gegenüber. Es ist das Kind, das erzählt und den (starren) Blick der Erwachsenen – mit viel Humor und Ironie – unterwandert und persifliert.
Die Literatur, der Roman wird dabei zum raffinierten Gegenarchiv das nicht nur die Perspektive des Opfers schildert, sondern auf performative Weise von diesem Trauma erzählt, indem fehlende Zusammenhänge sichtbar werden – aber auch die Lücke, die bleibt.
Nicht nur in Bild ohne Mädchen hat Sarah Elena Müller eine Stimme gefunden, die unbedingt gehört werden muss: Auch ihre Erzählungen auf Deutsch und Schweizerdeutsch (z.B. in ihrem Buch Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe, 2022 erschienen), ihre Audio- und VR-Installationen, ihre Filmessays und Hörspiele beweisen, wie geschickt sie dieses Spiel im Aufzeichnen von Worten, Bildern und Tönen auf verschiedensten Klaviaturen beherrscht.
Dabei sind es immer wieder die Wahrnehmungslücken, denen Sarah Elena Müller in all ihren Arbeiten immer wieder neu auf den Grund geht. Die Arbeit mit verschiedenen Medien ist dabei nie nur Spiel, nie nur Selbstzweck, sondern wird getragen von einer wilden, schrankenlosen Neugier. Diese Neugier gilt zum einen den Technologien des Sehens und Hörens, Gerätschaften, die unsere Wahrnehmung marmorieren. Zum anderen erforscht diese so unerschrockene wie hellsichtige Schweizer Autorin aber auch die künstlerischen Möglichkeiten, mithilfe der Sprache, mithilfe von Bildern und Tönen, andere Sichtweisen aufzutun, und auch unsichtbare, innere und aus unterschiedlichen Gründen unterdrückte Bilder und Klänge in die Welt zu tragen. Und das nun ist große Kunst.
Und so freue ich mich persönlich sehr, dass der diesjährige Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung Sarah Elena Müller zuteil wird. Herzlichen Glückwunsch!
https://sarahelenamueller.ch/