St. Gallische Kulturstiftung

2010, Frühjahr

Roman Rutishauser

  • aus Herisau
  • Anerkennungspreis über Fr. 10000.– für die Region St.Gallen
  • Sparte: Musiker, Komponist, Chorleiter, Pädagoge, Kulturvermittler

Urkunde

Sei es ein schwankendes Floss, ein Versuchsstollen im Gebirge oder eine Bahnhofshalle, wo er nachts um 2 Uhr ein Requiem aufführt: Roman Rutishauser liebt es, auf der Suche nach der spannungsvollen Zwiesprache von Klang und Raum zu sein. Der freischaffende Musiker, Komponist, Pädagoge und «musikalische Installateur» sprengt den gewohnten Rahmen von Aufführungen, bringt seine Musik direkt zu den Menschen, berührt sie, zaubert ein Lächeln in ihr Gesicht oder lässt mitten im Leben über Abschied und Tod nachdenken. Je länger je mehr interessiert sich der Künstler für nicht angekündigte Arbeiten, die einfach plötzlich irgendwo stattfinden, für Leute, die zufällig anwesend sind. Wie der Winterpianist, der in schwarzem Umhang und schnabelförmiger Maske in einem nächtlichen Park auftaucht und ebenso so schnell wieder verschwindet. Menschen geraten in musikalische Geschichten, werden Teil davon. Kompositorische und pädagogische Arbeiten gehen bei Roman Rutishauser häufig Hand in Hand, immer wieder inszeniert der Künstler herausragende musikalische Installationen: einen KlangSeilAkt über den Dächern der Stadt Rorschach; eine Bahnoper in einem fahrenden Gepäckwagen; einen schweigenden Maskenball nach venezianischem Muster oder diesen Sommer den Circus Cucinello, ein Musiktheater zu Lande und zu Wasser mit über hundert Mitwirkenden.

 

Laudatio von Mark Riklin, Stiftungsrat

Stellen Sie sich eine Septembernacht vor – anfangs neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine Samstagnacht gegen zwei Uhr in der St.Galler Innenstadt. Aus allen Strassen und Gassen strömen Menschen in Richtung Bahnhof, wo Jan Dismas Zelenkas Requiem in c-Moll aufgeführt wird. Über tausend sind es, die sich in der Geleisehalle versammeln, sitzend auf Bänken, mitgebrachten Klappstühlen und Feldsesseln, auf Geleisen, Schwellen und Gepäckkarren, eingehüllt in Decken und warme Jacken. Chor, Orchester und Solisten sitzen auf einem Tiefladewagen der SBB, das Publikum auf dem Perron. Unter Leitung von Roman Rutishauser erklingen die ersten Akkorde der Totenmesse, die kurz nach 3 Uhr ein fulminantes Ende nimmt: Nach dem letzten Ton fährt der erste Zug ein, geradewegs zwischen Musiker und Publikum.

 

Ein einmaliges Ereignis, um das ich alle beneide, die es vor Ort miterlebt haben. Ich hab es verpasst, und trotzdem das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Zu stark ist die Ausstrahlung des Werks selbst in der indirekten Wiedergabe. Rund zwanzig Jahre später scheint mir diese Aufführung typisch für das Werk von Roman Rutishauser. Sei es ein schwankendes Floss, ein Sandstrand am Meer oder ein Versuchsstollen mitten in einem Berg: Der freischaffende Musiker, Komponist, Pädagoge und musikalische Installateur sprengt immer wieder den gewohnten Rahmen von Aufführungen, bringt seine Kunst direkt zu den Menschen auf die Bühnen des Alltags. Wer dahinter eine effekthaschende Masche vermutet, verkennt das wahre Anliegen des Künstlers: die Suche nach der spannungsgeladenen Zwiesprache zwischen Klang und Raum. Auch Räume verlangen nach Musik und Klang, nicht nur umgekehrt. So ist ein Konzertsaal längst nicht immer der passende Raum für Rutishausers Musik. Es scheint passend, klassische Musik in einer Werkhalle aufzuführen oder in einem Bahnhof über Abschied und Tod nachzudenken.

 

Ein paar Eckdaten aus dem Lebenslauf. 1960 geboren, verheiratet, vier Kinder, lebt und arbeitet in Herisau und Venedig, wo die meisten seiner Projekte entstehen. Kindheit und Jugend in Rorschach, Ausbildung zum Primarlehrer am hiesigen Seminar. In dieser Zeit ein erstes Engagement als Dirigent des Trachtenchors Rorschach. Auftritte als Liedermacher mit seiner Band, unter anderem im Stadthof Rorschach, wo sich das rockige Konzert mit aufmüpfigen Texten und schlechtem Sound zu einer fortlaufenden Veranstaltung entwickelt: Türen werden geknallt, der langhaarige Bandleader wird am nächsten Tag in der Zeitung als «musikalischer Brutalo» verurteilt. In Luzern folgt ein Studium an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik; parallel dazu ein Engagement als stellvertretender Kapellmeister im Circus Knie, die Leitung verschiedener Chöre, Bands und Orchester; Kleintheaterprojekte, Soloprogramme als Liedermacher, musikalische Installationen wie jene zur Aufrichte von Hundertwassers Markthalle in Altenrhein. Zweimal erhält er vom Stadttheater St.Gallen den Auftrag, ein Bühnenwerk zu komponieren.

 

Was Rutishauser auszeichnet, ist – unter anderem – seine Vielseitigkeit: Oft ist er Komponist, Autor, Regisseur und Produzent in Personalunion, manchmal entwirft er selbst Bühnenbild und Lichtkonzept. Kompositorische und pädagogische Arbeiten gehen bei Roman Rutishauser häufig Hand in Hand. Während 10 Jahren leitet er die Musikschule Herisau. 2003 gründet er sein eigenes Musikatelier und den Circus Cucinello. Seit 2004 leitet er das künstlerische Weiterbildungsjahr im SBW Haus des Lernens Herisau; 2007 wird er als «Artist in Residence» an die Pädagogische Hochschule in Rorschach berufen; 2009 mit Aufbau und Leitung des Vertiefungsstudiums «Kunst ans Kind» betraut. Immer wieder entstehen in Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Studierenden herausragende Projekte. Stellvertretend drei Beispiele: mit 150 PHSG-Studierenden der vielbeachtete «KlangSeilAkt» (2007) über den Dächern der Stadt Rorschach, eine grossangelegte «Sinfonie für Seiltänzerin & dünnes Haar»; mit SBW-Jugendlichen des künstlerischen Weiterbildungsjahres die Bahnoper «Orpheus & das lächelnde Ei» (2009) in einem fahrenden Gepäckwagen des Rheintal-Express; oder mit über 100 Beteiligten des Circus Cucinello «Die Lieder des Wassers» (2010), die am 6. August am Rorschacher Seeufer mit einer schwimmenden Manege Premiere feiern werden.

 

Auffallend oft ist es in den letzten Jahren die Stadt Rorschach, die zum Handkuss kommt. Zwischen dem denkwürdigen ersten Auftritt im Stadthof und der Berufung zum «Artist in Residence» liegen fast 25 Jahre. Seither sieht er seine Heimatstadt mit neuen Augen, entdeckt deren Charme. Immer wieder neue Projekte sind die Folge davon. Der Seepianist beispielsweise, der zwei Wochen lang auf einem Wasserflügel spielt; dem Wasser zuhört und Menschen dazu einlädt, mit ihm zu improvisieren. Und ein paar Monate später als Verkörperung des Winters wieder auftaucht, mitten im Seepark im Scheine eines Kronleuchters. Wenn eine schweigende Gesellschaft auf einem festlich geschmückten Lastschiff diniert, von einem schrägen Streichorchester begleitet, ist die Handschrift unschwer zu erkennen: Es muss der neuste Streich von Roman Rutishauser sein, ein schweigender Maskenball nach venezianischem Muster. Je länger je mehr interessieren Rutishauser künstlerische Arbeiten, die nicht angekündigt werden, sondern einfach plötzlich irgendwo stattfinden, für Leute, die zufällig anwesend sind.

 

Wer die heiligen Hallen der Kunst verlässt, aus dem geschützten Rahmen von Museen, Tonhallen und Konzertsälen hinaus tritt, muss mit Schwierigkeiten und Widerständen rechnen. Darf man nachts auf einem Wasser-Flügel spielen – oder fällt das bereits unter Nachtruhestörung? Darf man einen Zirkuswagen am Seeufer aufstellen, als Teil der Installation? Darf man an einem christlichen Ort tibetische Klangschalen aufhängen? Darf man vom Publikum verlangen, den Gong nackt zu spielen? – Ja, man darf, sagt die Kunst. Rutishausers Kunst wirft Fragen auf. Seine Werke sorgen für Gesprächsstoff, zaubern ein Lächeln ins Gesicht, lassen Menschen in Geschichten geraten. In seiner musikalischen Arbeit gelingt es ihm immer wieder, sowohl Ausführende als auch Zuhörende zu berühren und zu begeistern, über alle Grenzen musikalischer Stile und Schubladen hinweg. Wie beispielweise bei der «messe blanche» (2005/2006), seiner Komposition für Chor, Violine und Tabla, als Sinnbild der Suche nach Stille und Unberührtheit.

 

Die Konzerte in der Schweiz und in Frankreich mit Paul Giger (Violine), Udai Mazumdar (Tabla) und dem Atelierchor Herisau stiessen auf grosse Resonanz. Musikerfreund Paul Giger sieht in Roman Rutishauser einen äusserst vielseitigen und kompetenten Musiker, dies in Verbindung mit seinen menschlichen Qualitäten: Erst durch die Wahrhaftigkeit des Menschen, des Musikers, des Pädagogen Roman Rutishauser erschliesse sich die Authentizität, Glaubwürdigkeit und Grösse seiner Persönlichkeit.

 

Lieber Roman, es bleibt mir, dir im Namen der St.Gallischen Kulturstiftung zu danken für all deine überraschenden Geschenke, die du uns immer wieder bereitest. Und dir zu wünschen, dass dir weder Ideen noch Humor ausgehen, und du immer wieder auf Behörden triffst, die dich mit offenen Armen empfangen, deine Kunst als Geschenk betrachten und alles Mögliche unternehmen, deine unmöglichen Ideen möglich zu machen. Auf dass die Kunst die Oberhand behält.

http://romanrutishauser.ch