Priya Ragu, seit vielen Jahren als Musikerin aktiv, lebt seit 2016 ausschliesslich von ihrer Passion und schaffte 2021 den internationalen Durchbruch in diesem nach wie vor männlich dominierten Business. Bemerkenswert, wie es ihr gelingt, die traditionelle tamilische Musik – ihre musikalischen Wurzeln, mit welchen sie sich erst im Zuge ihrer professionellen Laufbahn befasst und versöhnt hat – weiterzuentwickeln und mit Rhythm and Blues, Soul, Hiphop und Electro-Beats zu einem kosmopolitischen Klangspektrum zu verbinden. Hierin kommt ihr eine wichtige Vorbildrolle für unsere diverse Gesellschaft zu.
Die Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte der St. Gallischen Kulturstiftung freuen sich daher ausserordentlich, die talentierte, engagierte und interkulturelle Musikerin mit dem Kunstpreis auszuzeichnen.
Sehr geehrte Damen bis Herren, sehr geehrte Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte, sehr geehrte Regierungsrätin Laura Bucher, sehr geehrte Familie Ragupathylingam , sehr geehrte Priya Ragu
Als ich Priya Ragu im Frühling 2019 das erste Mal traf, stand ihr alles noch bevor. Und doch hatte sie schon mehr erlebt, als eigentlich in ein einziges Musikerinnen-Leben passt.
Priya und ich trafen uns im Kosmos in Zürich auf einen Kaffee, weil ich für einen Text die Musikerin kennenlernen wollte, der man in der Schweizer Musikszene als eine der allerwenigsten einen internationalen Durchbruch zutraute. Priya bot mir sofort das Du an und wir sprachen über ihren Weg als Musikerin und die Hindernisse. Priya arbeitete damals noch Teilzeit bei der Fluggesellschaft Swiss. Ihre Musikkarriere finanzierte sie sich grösstenteils selbst. Sie hatte damals noch kein Label. Ihr Produzent und Manager war ihre wichtigste musikalische Stütze, ihr Bruder Roshaan. Irgendwann fast am Ende dieses vielleicht etwas sprunghaften, aber ungebrochen einnehmenden Gesprächs fragte ich Priya nach ihrem musikalischen Traum. Sie sagte: »Den lebe ich gerade. Zusammen mit meinem Bruder verwirklichen wir unsere musikalische Vision.«
Heute Abend ist Priya Ragus Traum von damals fünf Jahre alt und sie lebt ihn immer noch. Vielleicht kann man sogar sagen: Priya Ragu wird nie aufhören zu träumen.
Wo ihr Traum genau zu keimen begann, lässt sich im Nachhinein nicht genau sagen. Aber vielleicht entsprang Priyas Traum einem Kinderzimmer in St.Gallen. Priya war knapp dreizehn Jahre alt, als die Musik etwas mit ihr machte, was sie oft mit Teenagern tut: Sie machte sie zu einer Anderen. Bei Priya war es der Neo-Soul der 90er-Jahre, diese Mischung aus HipHop-Beats und R’n’B-Klängen, die eine tiefe Nostalgie atmet und zugleich gegenwärtig klingt.
Die schwarzen Heldinnen des Neo-Souls, Brandy und Lauryn Hill zum Beispiel, wurden auch zu den Heldinnen von Priya. Mit ihnen fand sie ihre Stimme. Ihretwegen war sie plötzlich nicht mehr das einzige schwarze Kind in einer Toggenburger Schulklasse, das nur wenige Freunde und Freundinnen hatte. Ein Kind, das, wie sie später dem Journalisten Christoph Gertsch erzählen würde, eine glückliche Kindheit hatte, aber stets in zwei Welten lebte. Die Stimmen ihre Neosoul-Heldinnen gehörten in die eine Welt und die Songs aus Kollywood in die andere.
Kollywood ist der Name der tamilischen Filmindustrie in Chennai in Südostindien. Und Kollywood ist die Musik der Heimat von Priya Ragus Eltern. Komponisten wie A. R. Rhaman, Deva und Illaiyaraaja sind in Indien Superstars. Sie vermischen in ihren Arrangements elektronische mit traditionellen indischen Instrumenten. Priyas Familie holte sich Kollywood jeden Sonntag nach St.Gallen. Priyas Vater benutzte einen Wäschekorb als Trommel, der Onkel musizierte mit Messer und Gabel, und, während die Mutter kochte, sang man gemeinsam Kollywood-Songs. Das war die zweite Welt, in der Priya Ragu aufwuchs.
In den frühen Zweitausendern trug Priya Ragu ihren Traum weiter. Bis hier her in die Grabenhalle St.Gallen. Priya war knapp sechszehn Jahre alt, als sie ihren Bruder, der damals schon Rapper war und mit der legendären Combo The Wolves auftrat, fragte, ob sie mal mit ihm auf die Bühne konnte. Erst wollte er, dass sie ihm etwas vorsang. Das tat sie. Danach bestand er sofort darauf, dass sie mit ihm in der Grabenhalle auftrat. Doch dazu kam es nie. Denn eine der ersten Hürden, die sie als Musikerin nehmen musste, war die Sorge ihrer Eltern gleich zwei ihrer Kinder in ein unstetes Musikerinnenleben zu entlassen. Doch Priya Ragu gab ihren Traum nicht auf. Heute ist sie hier. Und mit ihr ihr Bruder und ihre Eltern.
Priya Ragus Traum war ein zweites Mal bedroht, als sie 2017 bei dem wichtigsten Popsprungbrett der Schweiz antrat, dem Wettbewerb um das M4Music-Demotape des Jahres. Sie war schon mal angetreten. 2013. Und war bis auf ein paar nette Worte der Jury leer ausgegangen. Nun 2017, war Priya schon über dreissig Jahre alt und damit älter als viele ihrer Konkurrentinnen. Sie arbeitete Vollzeit als kaufmännische Angestellte bei der Swiss und steckte grosse Hoffnungen in den Auftritt am M4Music-Festival. Denn, was hatte sie neben dem Routineleben, wie sie es mir gegenüber nannte, ausser der Musik? Doch wieder ging sie leer aus. Aber Priya Ragu liess ihren musikalischen Traum nicht gehen.
Ein letztes Mal war ihr Traum bedroht, als er eigentlich gerade in Erfüllung zu gehen schien. Das war im Frühling 2020. Durch eine unwahrscheinliche Fügung war Priya Ragus federnder Soul-Song »Lighthouse« über den Kameramann eines indischen Fernsehsenders erst zum indischen Musikmagazin Rolling Stone gelangt und schließlich in einer der wichtigsten Radioshows der britischen BBC gelandet. Priya saß im Frühling 2020 wie viele von uns in der Pandemie im Pyjama zu Hause, als plötzlich von überall auf der Welt enthusiastische Nachrichten hereinflogen. Darunter waren auch Angebote von zwanzig verschiedenen Musiklabels. Priya und ihr Bruder Roshaan führten mehrere Gespräche mit den Verantwortlichen der Labels. Viele fanden die Struktur ihrer Songs sei noch zu kompliziert. Sie wollten ihre Lieder vereinfachen. Ihre musikalische Vision sich aneignen.
Nur einer fand, die Songs seien genau richtig. Er gehörte zum Label Warner Music Grossbritannien. Und dann unterschrieb Priya Ragu als erste Schweizer Künstlerin überhaupt bei diesem britischen Musikgiganten. Etwas, was sie sich nie erträumt hätte. Damals im Kinderzimmer in St.Gallen. Oder als ihr Bruder sie auf einen Gig in die Grabenhalle einlud. Oder als sie mir erzählte, wie sie versuchte ihre Musikkarriere mit ihrem Bürojob quer zu finanzieren.
Aber in Priya Ragus musikalischem Traum hatte alles Platz. Die lobenden Worte der New York Times, der Vogue, des britischen Guardian. Die Konzerte in Los Angeles, Montreal und Chicago. Die Haushoch-großen Werbeanzeigen am New Yorker Times Square. Die 351.659 Menschen, die ihre Musik auf Spotify jeden Monat anhören. Und der Anruf, der vor ein paar Jahren bei der Familie Ragupathylingam eintraf. Am Apparat waren Verwandte aus Kanada. Sie hatten in einer kanadischen Zeitung von Priyas Musik gelesen und riefen an, um Priyas Eltern zu gratulieren. In Priya Ragus musikalischem Traum hat auch Srinivas Platz, der tamilisch-indische Kollywood-Superstar. Er hatte Priyas kopfnickenden Soul-Song «Good Love 2.0» auf Facebook geteilt und mit dickem Lob versehen. Ihre Eltern, erzählte Priya mir später, konnten es kaum glauben.
Priya Ragus musikalischer Traum ist einer von zwei Welten, die eine werden. St.Gallen und Kollywood. Die Grabenhalle und der Times Square. Ein britischer Plattenvertrag und der Kunstpreis der St.Gallischen Kulturstiftung.
Es steckt alles in ihrer Musik. In ihrer Stimme, die, wenn man sie hört, einem wie ein leichter Stoff einhüllt, dass man sich sofort behutsam gebettet fühlt. In ihren Texten, die die Hoffnung in sich tragen, weil sie den Schmerz nur zu gut kennen. Ihrem Style, der so spicy ist, dass man sich daran verbrennen kann. Und in ihren Songs, die Lichter sind, die leuchten, selbst wenn die Welt wieder mal in Dunkelheit zu versinken droht.
Wenn Priya Ragu heute Abend den Kunstpreis der St.Gallischen Kulturstiftung entgegen nehmen wird, trägt sie ihren Traum weiter. Mindestens an die Ränder des Kantons, wo irgendwo eine Dreizehnjährige wie sie eine war, zu träumen beginnt. Von zwei Welten, die eine werden. Wo eine wie sie ihren Platz findet.
https://www.priya-ragu.com/