St. Gallische Kulturstiftung

2007, Herbst

Pipilotti Rist

  • aus Zürich
  • Grosser Kulturpreis über Fr. 30000.– für die Region Werdenberg
  • Sparte: bildende Künstlerin

Urkunde

In Anerkennung ihres bedeutenden Kunstschaffens verleiht die St.Gallische Kulturstiftung den grossen St.Galler Kulturpreis 2007 an Pipilotti Rist. Die Künstlerin ist in Grabs/SG aufgewachsen und wohnt und arbeitet heute in Zürich. Der Preis ist mit 30‘000 Franken dotiert und wird wie folgt begründet:

 

Pipilotti Rist hat in den letzten zwanzig Jahren einen künstlerischen Kosmos geschaffen, der seinesgleichen sucht. Inzwischen als Video Königin europaweit bekannt und gefeiert, hat sie vor allem auf dem Gebiet des Videos neue Massstäbe gesetzt, indem sie sich die neuesten Errungenschaften der Medientechnologie fortwährend und scheinbar mühelos zunutze gemacht und sie spielerisch ihrer Kunst anverwandelt (einverleibt) hat‘ Pipilotti Rist verkörpert beispielhaft die Lebenswelt der jüngeren Generation und bringt diese frisch und lebendig in bewegten, mitreissenden Bildern zur Darstellung. Aus der Pop Ästhetik und Pop-Musik heraus entwickelte sie eine Farb- und Bewegungsästhetik, bei der ungewöhnliche Bildausschnitte und Perspektiven, schrille Farbeffekte und überraschende Motivwandlungen eine zentrale Rolle spielen. Auch macht sie menschliche und maschinelle

Unzulänglichkeiten des Sehens zu einem der zentralen Themen ihres Videoschaffens. Videoinstallationen wie ,,Ever is over all“ und ,,Homo sapiens sapiens“, die Pipilotti Rist 1997 und 2005 an den Biennalen in Venedig zeigte und die in unterschiedlicher Weise für Furore sorgten, dokumentieren die Verspieltheit und gleichzeitig die Brisanz, die gleichermassen in ihren Werken liegen. Auch in St.Gallen hat die Rheintaler Künstlerin ihre Spuren in der Kunsthalle und im Kunstmuseum hinterlassen: 1994 als Manorpreisträgerin mit ihrer Ausstellung im Kunstmuseum, wo frühe Videos wie ,,I’m not the girl who misses much“ aus der Mitte der 80er-Jahre inszeniert waren. Oder seit neuerem mit der roten Stadtlounge im Bleicheliquartier, die schweizweit Aufmerksamkeit und ein grosses Medienecho erzeugt hat.

 

Für die Expo 2002 hat sie wichtige, nicht zu unterschätzende Akzente gesetzt. Mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen versehen, durch wichtige Werke in bedeutenden Sammlungen und Häusern vertreten und durch namhafte Publikationen in der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht, wurde Pipilotti Rist gleichsam in den Status der Künstler-Ikone der Schweiz gehoben.

 

Die St.Gallische Kulturstiftung würdigt mit dem Kulturpreis 2007 ihr vielfältiges künstlerische Schaffen und dessen grosse internationale Ausstrahlung und zählt Pipilotti Rist zu den innovativsten und lebendigsten Künstlerinnen unseres Landes, die ihre St.Galler respektive Grabser Wurzeln nie abgeschnitten hat.

 

Laudatio von Ludwig Hasler „Aus den Kartoffelsäcken tanzen“

Das kann ein vergnügter Abend werden, hoffentlich für Sie, liebe Pipilotti Rist, und mit Ihnen, liebe Kathrin Hilber, Elisabeth Keller-Schweizer, Noldi Alder mit Ihnen allen, geschätzte Gäste.

 

Ich frag mich nur: Ist Ihnen unsere Lage eigentlich klar? Der Planet, auf dem wir sitzen, rast gerade mit 108`000 Stundenkilometern durch den Weltraum. Ein aberwitziges Tempo, wir obendrauf, ahnungslose Winzlinge, nicht einmal angegurtet, rundum nichts als unendliche Leere, Schwarze Löcher, gigantische Energiespektakel. Geht es da um etwas? Spielen wir – im kosmischen Drama – irgendeine Rolle? Ich fürchte, nicht einmal Noldi Alder weiss das so genau, trotz seiner heidnischen Intimität mit dem Berggeist. Wir andern, postmoderne Hors-sol-Existenzen, kommen uns erst recht kosmisch vereinsamt vor.

 

Vielleicht legt uns Pipilotti Rist darum gern auf den Rücken. Nicht erst in Venedig, in der Barockkirche, mit Blick hinauf zum Video-Fresko Homo Sapiens Sapiens. Retour ins Paradies, zurück hinter den Sündenfall. Ein zauberhafter Vorschlag, den Schlamassel der Menschheitsgeschichte zu unterlaufen, noch einmal von vorn, diesmal weiblich, mit der doppelten Eva statt dem depperten Adam. Da finde sogar ich, auch nur ein Mann, kurz heraus aus meinem kosmischen Waisentum: Die paradiesischen Evas sitzen nicht auf dem rasenden Planeten, ihr Körper ist – und jetzt kommen Ihre Worte, Madame – «selber ein Planet, die Epidermis ist ein Land, die Fingernägel sind ein Haus, die Mundhöhle ist eine Kirche, der Nacken das Tor zum Himmel». Es reicht nicht, auf der Welt zu sein; ich muss mich selber zu einer Welt ausbauen. Der Homo sapiens sapiens, Pipilottis Menschenwurf, ist nicht die Hirnbestie mal zwei. Seine Sapientia denkt konsequent anders: körperlich, sinnlich, biologisch. Die Hirnvernunft bohrt nach dem Warum, Wozu, nach dem Sinn – und hintersinnt sich unglücklich. Der Körper aber macht Sinn – ich muss ihn nur bewohnen, blutend, pulsend, atmend, häutend, greifend. Im kosmischen Sinntheater ist der Vorhang gefallen, die göttliche Regie gerade vakant. Da bleibt uns nur: das eigene kleine Schicksal als ein sinnliches Sondertheater zu unterhalten. Und in meinem Privattheater waltet Pipilotti, ohne dass sie es weiss, immer wieder als Chefdramaturgin.

 

Wir haben es also mit einer sinnlichen Metaphysikerin zu tun. Ob Frau Rist das selber so sieht – keine Ahnung. Ist auch egal. Sie schafft. Ich schau zu. Sie muss nicht auch noch recht haben. Hauptsache, sie wirkt. Auf mich entschieden. Seit ich – unter ihrer Regie – als eigener Planet unterwegs bin, schreckt mich die rasende Weltkugel kaum noch. Pipilotti, die Ent-Ängstigerin? Sie kann auch umgekehrt. Schockieren. Will sie zwar nicht partout, aber gehäuselte Blicke sehen es halt so. Siehe «Blutraum», der Clip über Menstruation, die weibliche «Fleischuhr». Jedenfalls ist die Paradies-Metapher nur ein Aspekt. Die Video-Queen weiss: Ohne Sündenfall gibt es auch kein vor dem Sündenfall. Ohne das Böse nichts Gutes. Sündenfall ist Freiheitspflicht. Das muss man der Frau, die seriell Autoscheiben zertrümmert, nicht umständlich erklären. Ihr Thema ist die Ambivalenz, nie das Eindeutige. Alle Ideen vom Idealen hasst sie. «Ich sag: Es gibt die Scheisse, ja! Es gibt das Schlechte, ja! Es gibt das Nicht-Ideale, ja!» Im Video «Entlastungen. Pipilottis Fehler» fällt sie fünfundzwanzig Mal hin, aufs Strassenpflaster, ins Gras, ins Kornfeld, ins Wasser. Fehler. Der Normalmensch denkt: Fehler sind zu vermeiden, wenigstens zu beheben. Schade. Im Fehler, im Defizit sitzt, was Menschen vom Geissbock unterscheidet: die Lücke, das Ungenügen, die Sehnsucht, der Hunger nach Lebensfülle. Der Mensch ist kein vom Himmel gefallener Engel, eher ein Spätausläufer des Affen, die Evolutionsleiter hinan stolpernd. Also soll man ihm das Stolpern beflügeln, nicht austreiben.

 

Pipilotti spricht gern von der «Milde» gegen menschliche Halbfertigkeiten, Halbbatzigkeiten – und geht doch nicht auf Schmusekurs zu all der «Scheisse». Eher auf Verführungstour: das üble Umwerben statt Bekämpfen. So entübelt man erfolgreicher. Zähmen, was uns angurkt; nicht beherrschen wollen. Le Petit Prince lässt grüssen. Typisch der Titel ihrer jüngsten Ausstellung in Stockholm: «Schwerkraft, sei meine Freundin». Wie kommt man da drauf? Mit der raffinierten Haltung, noch den Feind in ein erotisches Verhältnis zu verwickeln. Andere Künstler spielen gern die ästhetische Omnipotenztaste – nach dem Motto: «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer.» Pipilotti macht nichts nieder. Was sie bremst, freundet sie sich an. Die Schwerkraft zieht mich hinab? Na gut, dann zieh ich halt sie an – und wir tanzen gemeinsam los. Die Entlastung von Lasten gelingt über Magie der Verführung.

 

Klar, dass Frau Rist es gleich mit der Schwerkraft aufnimmt. Was sind schon die Alpen? Vielleicht ein Zürcher Problem. Pipilotti hat ein Menschheitsproblem. Dass wir hocken statt schweben. Diese Erdenschwere. Diese Plumpheit bis in die Köpfe. Ist ein kosmisches Gesetz, lässt sich nicht aushebeln. Aber vielleicht überlisten. Also nicht – künstlich leichtfertig – die Schwerelose simulieren. Sondern mit der Schwere paktieren. Wie denn? Im Sinken. Abtauchen. Unter Wasser. Unbeschadet kommt man da vermutlich nicht heraus. Mit allerlei Auflösungskräften muss rechnen, wer mit der Gravitation anbändelt.

 

Jedenfalls wirkt das dann so geheimnisreich fremd und doch körperlich so vertraut, dass es alle mitzieht, die ihre Sinne nicht aus Versehen geschenkt bekamen. Noch ein kunstfernes Publikum mag diese Videokunst. Wie sonst nur noch Roman Signers Piaggio auf der Sprungschanze. Der Vergleich wäre zu verlockend, aber ich darf hier nicht endlos reden. Also sag ich bloss: Wenn so ein Fest das provinzielle Bewusstsein nicht beschwingt, dann vergessen Sie es. Zwei heitere Ostschweizer Animisten auf der Weltbühne der Kunst. Roman Signer animiert uns die Aussenwelt, Pipilotti Rist die Egowelt.

 

Sagte ich «heiter»? Ist Pipilotti unverwüstlich heiter? Hätten manche gern. So eine schräge Dauerverrückte. Wer wilde Sachen macht, muss auch ständig überdrehen. Denken die Braven. Die fragten schon Erich Kästner, bei ihm zuhause müsse es ja wahnsinnig lustig sein. Aber sicher, sagte er, ich hänge stets am Kronleuchter und schaukle hin und her. Tatsächlich war der Klassehumorist ein melancholischer Neurotiker. «Man muss spüren, dass der Schmerz in der Ecke hängt», sagt auch Pipilotti. Vielleicht lebt sie darum so total normal. Sie arbeitet. Sie hat ein Kind. Sie hat eine Firma. Sie liest, sie denkt nach, über die Milliarden Jahre, die es dauerte, bis aus dem Schlamm unsere verwirrten Köpfe auftauchen.

 

Wo keine Dunkelheit ist, glänzt auch keine Heiterkeit. Pipilotti erheiterte uns abgründig. Mit ihren Expo-Auftritten. Mit ihren frühen Taschen. Mit der Stadtlounge. Manchmal denke ich, es ist ihr so etwas Jahrhunderthaftes gelungen wie dem Nicolas Hayek mit der Swatch-Uhr. Alle fanden die Swatch total daneben, Hayek aber hängte eine 140 Meter lange Plastik-Swatch ausgerechnet an die Fassade der piekfeinen Frankfurter Commerzbank. Die Leute standen davor und lachten: Ha, Plastik! Schluss mit dem bourgeoisen Halbedel-Uhren-Etepetete. Farbig, lustig, frech. Die Zukunft kann beginnen. Die Leute lachten nicht über einen Scherz, einen Gag. Sie lachten, weil sie in diesem Plastikding ihr eigenes, träumendes Lebensgefühl entdeckten. Sie lachten über sich, sie erkannten in der Swatch das Symbol ihres eigenen möglichen Lebens, eines unkonventionelleren, entstaubten.

 

So etwas schafft Pipilotti Rist mit ihrer Kunst. Wir sehen hin – und fühlen uns ertappt. Weil es schön ist? Das auch, «schön» kommt vom mittelhochdeutschen «skauni», schauenswert. Es gibt in diesen Videos unerschöpflich zu schauen. Gesichter, Gras, Leiber, Himmel, Glieder, Quallen, Blutkörperchen. Man kann sich nicht satt sehen, wir sehen ja uns, so, wie wir sein könnten: so körperlich, so traumwandlerisch, so sinnlich, so intensiv, so traumwandlerisch, so unschuldig, so kindlich anarchisch wie die beiden «Tausendschönchen», Marie 1 und Marie 2, die unterhaltsam ihre Welt zerstören, am Ende sich selbst, wenn sie Nylonstrümpfe zerschneiden, während die Bildfläche, die Welt, zerstückelt und neu zusammen gesetzt wird. Total nihilistisch, aber mit Charme. Die Strümpfe als Haut, als Film, der uns von den andern trennt, schützt; zerschneiden wir ihn, entrinnen wir – vielleicht – der Isoliertheit unseres Körpers.

 

Spätestens hier bin ich hin und weg. Ich bin verführt – hin zu meinen weggesperrten Seelenregungen. Verführen ist ein delikates Metier. Eigentlich gar keines. Verführen gelingt nur absichtslos. Niemand kann verführt werden, der nicht insgeheim darauf wartet. Die Verführerin wirkt stets auch ein bisschen als Therapeutin. Sie bricht unseren Widerstand gegen unsere schlummernden Sehnsüchte. Besonders wir Männer stellen vor unserer Seele jede Menge Wachposten auf. Die Verführerin Pipilotti schläfert die Wachen ein, rührt unser Unbewusstes an und auf. Und wir merken: Wir sind – diesseits des homo oeconomicus – ganz anders, richtige Sehnsuchtsschatullen, unter der coolen Schale unstillbar romantisch. Liebt Pipilotti die Menschen? Dostojewski sagte: Einen Menschen lieben heisst, ihn sehen, wie Gott ihn gemeint hat. Pipilotti Rist glaubt nicht an Gott. Für erlösungsfähig hält sie uns dennoch.

 

Und tut dafür, was sie kann. Die unzumutbaren Parts spielt sie selber. Sie exponiert, riskiert sich, nimmt Leben wie Kunst resolut persönlich. Und sich selber doch nicht so schrecklich wichtig. Täglich streichelt sie ihren Computer, die Maschinen mit einem feuchten Tuch, küsst sie gar. Die Maschinen brauchen das. Sagt sie. Glaub ich sofort. Der Homo sapiens sapiens, dieses beinahe wieder paradiesische Körpertier, beginnt mit der Zärtlichkeit zu den Dingen.

Mit der Zärtlichkeit auch zu den eigenen «Dingen». Ich war kürzlich beim Kardiologen. Lag da und sah am Monitor mein Herz, sah, wie meine Herzklappen arbeiten, blubb, blubb, blubb, unermüdlich, so liebenswürdig selbstlos, obwohl ich sie übel strapazierte, in all den seit 63 Jahren. Ich war richtig gerührt, wurde auf der Stelle ein top Mensch. Eine Zeitlang. Ich kann ja nicht jede Woche zum Kardiologen gehen. Aber vielleicht bei Pipilotti eine Video kaufen. Hat genau dieselbe Wirkung. Mindestens.

 

Das klingt jetzt, als machte ich aus dieser Videokunst eine rein private Affäre. Wo wir doch im Land ein paar Probleme haben. Und zu rasch denken, das sind halt politische Probleme. Knatsch der Parteien und so. Ja, oberflächlich. Darunter steckt ein ganz anderes Problem: Statt des Homo sapiens sapiens verbreitet sich der Homo vulgaris. Er achtet nichts. Blickt er in den Spiegel, ist er hoch zufrieden. Mit sich selbst ist er ganz eins. Niemals plagt ihn ein Gefühl eigenen Ungenügens. Er will nur bleiben, der er ist. Sich in die Perspektive anderer zu versetzen, wäre ihm lästig. So trampelt er umher, sieht bei andern nur das Andere, das findet er doof, darüber kann er nur grinsen.

 

Mit Argumenten kommen wir dem vulgären Charakter nicht bei. Dieser harte Brocken taut, wenn überhaupt, erst auf, wenn ihm etwas unter die Haut geht. Warum spielt man zum Sessionsbeginn nicht ein, zwei Pipilotti-Videos an die Decke? «Pepperminta» ins Parlament. Wir haben keine politischen, wir haben kulturelle Knörze. Subkutane. Und wir haben eine Magierin des Subkutanen. Mit ihr liefen wir in Menschenform auf, in Fantasieform, Innovationsform…

 

Reicht das für die «kleine Festrede»? Dummerweise musste ich einen Titel liefern, bevor der erste Gedanken klar war. «Aus den Kartoffelsäcken tanzen». Das Wort fand ich mal bei Pipilotti Rist. An die Adresse von Politikern, die über den «roten Schandfleck» in St.Gallen herzogen, sagte sie sinngemäss: Diese Politiker kapieren nicht, dass selbst die Anzüge, in denen sie stecken, eine kulturelle Leistung sind, ohne die sie «noch in Kartoffelsäcken» herum liefen.

 

Kultur ist also für Frau Rist nicht nur Video plus Musik. Sondern jede Art, Leben zu verwandeln. Nur in Verwandlungslaune bleiben wir lebendig. Aus dem «Kartoffelsack» sind wir nie definitiv heraus. Mein «Boss» von heute ist der Kartoffelsack von morgen. Also aus den Kartoffelsäcken tanzen. Nie bloss sein, was wir sind: Sein, was wir werden. Im Potentialis leben. Im «milden» Abstand zur Gegenwart. Nur so füllen wir den Augenblick. Weil ein feiner Riss ihn durchzieht. Eine Lücke, die verhindert, dass wir verhocken. Die Lücke, Sie wissen: das, was den Menschen vom Geissbock unterscheidet.

 

So. Der Planet Erde rast noch immer. Im Weltall weit und breit kein Care Team. Die Himmel sind leer. Wir sind allein. Kosmische Waisenkinder. Ein kleiner Fisch war der Mensch schon immer, doch bis vor kurzem fühlte er sich trotzdem als Akteur im grossen Welttheater, in diesem Drama zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Hölle, zwischen dem Numinosen und dem Animalischen. Jetzt, da das Leben entdramatisiert ist, geht es nur noch um unser eigenes mickriges Glück. Mit sich allein aber ist der Mensch immer in schlechter Gesellschaft. Er leidet – am Überdruss, dauernd sich selbst sein zu müssen. Das Selbst ist gestresst, das Ich stets mit einem Bein im Burnout. Die Therapiebranche fängt ihn auf, schickt ihn hinein ins psychologische Purgatorium, ins Atemseminar, in die analytische Redekur, ins Lach-Yoga, in die Diät mit ungesättigten Fettsäuren. Heraus tritt das befriedete, das entkonflikte Selbst. Nur dass sich das auskurierte Ich noch mehr langweilt mit sich.

 

Unsere Preisträgerin lädt zur antizyklischen Kur. Statt den Elementarteilchen- Menschen zu versöhnen, dramatisiert sie ihn. Statt ihn still zu legen, schnipselt sie an ihm herum, fragmentiert ihn, stimuliert ihn. Statt ihn rundum verständig zu machen, macht sie ihn fleischlich rebellisch. Und falls auch nur halbwegs zutrifft, was ich mir da zusammen reime, muss ich einfach sagen: Wären wir eine einzige Community dieses homo sapiens sapiens: Wir wären nicht nur zärtlicher – zu uns, zu den Dingen, den andern. Wir wären auch unwiderstehlich. Fraglos Nummer eins in punkto Innovation, Reputation.

 

Es gibt in diffusen Zeiten nichts Nützlicheres als die scheinbar nutzlose Kunst. Von Pipilotti Rist ist keine Dienstleistung zu haben, wohl aber eine Lebensleistung. Die Leistung nämlich, unserer Menschenexistenz neue Spielformen zu entdecken – reichere, nuanciertere, raffiniertere. Die Leistung, die gesellschaftlichen Standards in die Möglichkeitsform zurückzunehmen – unbekümmert darum, ob dabei die besten oder die schlimmsten Möglichkeiten auftauchen. Meine Welt als Möglichkeit – das ist Spiel und höchster Ernst. Es ist der Geburtsort jeder menschenmöglichen Autonomie, der Zentralnerv jeder inneren Freiheit – und das Geheimnis jeder vitalen Gesellschaft. Nur der hellwache Möglichkeitssinn schützt vor dem Todfeind jeder Lebendigkeit: dem Spiessertum mit seinen kompostierten Blickrichtungen.

 

Wenn das so ist, dann finde ich: Für diese Leistung sind 30 000 Franken ein extrem günstiger Preis.

http://pipilottirist.net