Pic hat in seiner 42-jährigen Bühnenpräsenz als Clown, Verzauberer und Poet sein Publikum bezaubert. Seinen Heimatkanton St.Gallen hat er als sympathischer Botschafter in die ganze Welt hinausgetragen. Pic ist ein Markenzeichen geworden. Legendär sind seine Auftritte beim Zirkus Knie, nachhaltig hat er den Zirkus Roncalli geprägt und auch mit seinen Soloprogrammen spielt er sich in die Herzen der Menschen. Er ist über 6000 Mal aufgetreten auf Bühnen zwischen Moskau und Utrecht und von Schweden bis Senegal. In St.Gallen hat er sich immer wieder für soziale und gesellschaftliche Projekte engagiert und diese erfolgreich umgesetzt.
Die St.Gallische Kulturstiftung würdigt mit dem Grossen St.Galler Kulturpreis 2010 Pics vielfältiges, künstlerisches Schaffen und dessen grosse Ausstrahlung als Clown, Verzauberer und Poet.
Liebe Anwesende
Es ist üblich, dass eine prominente Persönlichkeit oder ein profunder Kenner der Materie die Laudatio hält. Ich bin weder-noch. Ich spreche als Freund des Geehrten. Als Freund seit junger Zeit. Vom Fussball her kannten wir uns schon ein bisschen, als er 1970 in der Kellerbühne auftrat. Ich war von seiner Vorstellung überrascht und berührt— so etwas hatte ich noch nie gesehen: eine wortlos erzählte Geschichte. Und ich hatte das Gefühl, dass ich verstanden hatte. Zum ersten Mal verstand ich — etwas, was man nannte. Und es war mir so interessant und spannend — wie damals nur Frauen und Fussball…
Gerne wurde ich sein gelegentlicher Beleuchter. Und damit zu einem privilegierten Zuschauer. Ich sah aus ganz intimer Nähe, wie er seine Arbeit macht. — Mehr noch: Ich war sogar ein kleiner Teil davon. Chauffeur, Träger, Beleuchter, Tonmeister und Requisiteur. Alles in einem. Das war damals noch möglich. Vor fast 4o Jahren war die Ausrüstung einfacher: ein grosser Scheinwerfer, auf die Mitte der Bühne gerichtet, Verlängerungskabel und Dimmer. Ein schwarzer Vorhang als Hintergrund und das Tonband mit der schönen Musik. Pic hatte schon immer schöne Musik. Wenn wir auf Tournee gingen oder einen Auftritt in einer Schule oder auf einer Kleinbühne hatten, begann das Abenteuer frühmorgens im vollgepackten VW-Bus. Einmal losgefahren, galt es ernst. Hatten wir alle Requisiten dabei? Würden wir das Theater rechtzeitig finden? Wo war der Abwart? Wie war der Abwart? War er uns freundlich gesinnt? Oder musste man hofieren, damit sich der passende Stecker fand ? — Überall lauerten Gefahren. Immer blieb ein bisschen Angst. Da fehlte ein Schlüssel, dort gab es kein Licht. Wie ist die Luft? Zu warm, zu feucht? Die Seifenblasen würden platzen, bevor man sie sieht. Es zieht und die Klimaanlagerauscht.
Immer kämpfen, immer im Gegenwind. Nie hat Pic aufgegeben. Wie habe ich bewundert, wie er sich auf den Auftritt konzentrieren konnte. Den ganzen Tag hatten wir Schwierigkeiten, mussten improvisieren und das Poulet war kalt. Immer fehlte Zeit! Doch er, der eben noch neben mir in Stress und Ungemach rotierte, lockerte seinen Körper und meditierte. Und wenn der Vorhang sich hob, stand Pic mit konzentrierter Kraft und Ausstrahlung auf der Bühne. Und blieb im Konzept, auch wenn alles gegen uns lief. — Und ich habe mich gefragt, wie ist es möglich, so viel Mut zu haben und auf eine Bühne zu stehen? Allein. Allen Blicken und aller Kritik ausgesetzt. Ein kleiner St.Galler wie ich. Die Angst zu ertragen und zu überwinden, die Angst vor dem Scheitern, vor dem Nicht-Gelingen. Diese Angst, die wir alle kennen — aber auf der Bühne? Vor Zuschauern, die dafür gezahlt? Da hinauszutreten — mit Risiko und ohne Garantie— nackter als nackt. Stärker sein als die Selbstzweifel, an sich selber glauben, überzeugt sein, dass man etwas zu sagen hat, dass man kommunizieren kann. Mit-teilen. Von meiner Position hinter dem Vorhang aus konnte ich die Atmosphäre im Zuschauerraum spüren. Wie die Menschen langsam aus ihrem Alltag treten. Wie die Spannung aus ihren Körpern weicht. Wie sie anfangen zu fühlen und zu verstehen und wie ihre Herzen sich öffnen. Wie eine Atmosphäre der Wärme und der heiteren Besinnung entsteht. Wie sie sich auf seine Seite schlagen und sich in Herzenswärme mit ihm verbinden. Sofort so viel Sympathie. War die Vorstellung vorbei, meine Arbeit getan und der Applaus verklungen, beobachtete ich die Zuschauer, wie sie gingen. Sie schienen mir aufrechter und lockerer. Entspannt und rund. Ihre Gesichter waren schöner geworden. Und wenn ich dann in diese Gesichter schaute und sah, wie tief sie berührt waren, wie ihre Augen in eine sanfte Ferne blickten — dann war ich stolz. Stolz auf den Meister, der dies zustande brachte, der diese Menschen verzaubert hatte und ihnen eine Wärme auf den Heimweg mitgab, die selten ist und so wertvoll. Und ich war auch stolz auf mich, weil ich dabei mitgeholfen hatte. Weil ich ein kleiner Teil einer wunderbaren Sache war. Weil ich zum richtigen Zeitpunkt das Licht gelöscht und die Musik leiser gestellt hatte. Eigentlich ganz leichte, alltägliche Handgriffe. Aber wenn so viele Zuschauer darauf warten, wenn solche Spannung in der Luft liegt, wenn so viel davon abhängt, ob man den Schalter im genau richtigen Moment kippt, dann wird das Einfachste schwierig. Dann schwitzen die Hände und gehorchen nicht. — Doch es hatte geklappt! Pic hatte das Publikum angerührt und verzaubert. So, wie es beschrieb: Er hatte das Publikum zärtlich und empfindsam gemacht. In eine Dimension gehoben, wo der Horizont sich weitet.
Oder wie Henry Miller sagte: „Für eine kurze Spanne dürfen wir uns verlieren, uns auflösen in Wunder und Seligkeit, vom Geheimnis verwandelt.“ Das ist es, was ich gesehen habe: Ein Zauber hatte die Menschen gestreift. Und das ist ein Geheimnis. Eine Gabe vielleicht. Auf jeden Fall etwas, das man nicht antrainieren kann, auch wenn man noch so fleissig übt, das nichts mit Arbeit zu tun hat und das weit und tief über alles Lernbare hinausgeht. Und das in jeder Vorstellung! Denn bald hatte ich gemerkt, dass jeder Abend anders ist. In jeder Vorstellung beginnt alles von Neuem. In jeder Vorstellung gibt er dem Werk eine Seele. Muss es beseelen, von neuem kreieren. — Energie und Liebe hineinpacken, damit ein Funke springen kann. Jedes Mal, wenn er hinter den Kulissen in Windeseile aus dem einen ins nächste Kostüm, von der einen in die nächste Rolle schlüpfte, sah und spürte ich einen Menschen in allerhöchster mentaler und körperlicher Konzentration und Hingabe. Blitzschnell und tief. Und ich habe gesehen, wie viel Kraft es braucht, damit das Publikum nichts merkt. — — auch im privaten Leben. Wenn wir zur Verpflegung gingen, wenn man tanken musste oder das Hotel suchte: bei jeglichem menschlichen Kontakt unterwegs, bei jeglicher Frage oder Antwort entstand eine Brücke. Solidarisch und ohne Wertung.
Pic begegnet den Menschen in vollständiger Gleichheit, wie ich es noch nie gesehen habe. Völlig vorurteilslos. Mit positiver, menschenfreundlicher Grundhaltung. Und zwar so authentisch, so in seinem Wesen begründet, dass es sein Gegenüber sofort spürt und versteht. Achtung und Respekt vor dem Andern. Vehement gegen jegliche Diskriminierung. Nicht nur theoretisch, sondern gelebt. Nie habe ich ihn überheblich erlebt, nie arrogant. In seiner Kindheit und Jugend in der Spisergasse wohnte er in einem Haus, das „Zur alten Bank“ hiess. Trotzdem floss das Geld nicht in Strömen. In der sechsköpfigen Familie musste auf alles geachtet werden. Es wurde auf alles geachtet. Das ist die Achtung, die sich durch sein ganzes Leben und durch seine ganze Arbeit zieht. Sie war und ist immer vorhanden. Eine liebevolle Achtung. Wahrscheinlich von seiner Mutter gelernt. —Wir alle wissen, wie wichtig die Mutter ist in unserem Leben. Und Pic ist ein Glückspilz: Seine Mutter war eine liebevolle und feinfühlige Frau. Immer auf seiner Seite. Im Leben musste sie stark sein wie auf stürmischer See. Kämpfen gibt Kraft. — Pic hat sich von Anfang an selbst durchgeschlagen. Ist unabhängig geblieben. Hat nein gesagt zu saftigen Werbe-Angeboten, weil er seine Arbeit nicht als Konsum-Vehikel verkauft. Mit moralischem Anspruch und aufrechtem Gang. Den ganzen Weg bisher ist Pic aufrecht gegangen. Er ist immer aufmerksam. Es entgeht ihm wenig. Er spürt sofort, wie es um den Andern steht. Er hört’s in seiner Stimme, sieht wie sein Körper spricht und kann’s in den Augen lesen. Aber all das tut er in einer solch solidarischen und rücksichtsvollen Art, dass er niemanden beschämt.
Er ist immer einer von ihnen, einer von uns. Von Pic kann man lernen. In seiner Nähe wird man nicht fahrlässig oder gedankenfaul. Erlebe ich seine Sensibilität im Alltag, kann ich nicht anders, als mich zu überprüfen und aufzupassen, dass ich nicht plump und allzu egoistisch werde. Sehe ich seine Unvoreingenommenheit, erkenne ich meine Vorurteile. Da hilft es ihm natürlich auch, dass er gut aussieht. An seinem Gesicht bleibt mancher Blick hängen. Sein Körper passt zu ihm. Er hat Glück gehabt. Alles passt zusammen. Die Proportionen stimmen und nichts dürfte fehlen. Wär‘ nur schon seine Nase kürzer—er wär’s nicht mehr. Er ist zäh und stark, aber nicht robust. Und dieser Körper, sein Werkzeug und Arbeitsgerät, hat ihn immer wieder geplagt. Bis heute und jetzt. Kein Zuschauer weiss von den Schmerzen vor dem Auftritt und den Qualen danach. Wenn die Rechnung kommt, wenn Tribut gezahlt werden muss für Anstrengung und Belastung: Das Fussballer-Knie, im Laufe der Zeit die böse Schulter, der Rücken und der delikate Hals. Alles sehr schmerzhaft und sehr hinderlich. Und fast immer präsent. — Immer auf einer Gratwanderung zwischen schmerzhafter Überanstrengung und der Notwendigkeit des Trainierens. Er muss ja den Körper fit halten. Über 4o Jahre Höchstleistungen auf der Bühne! Wie viel schwere Arbeit braucht es, bis etwas so leicht, elegant und so jugendlich wirkt?
Anfang 7oer Jahre ein Klima herrschte, wie es grauer und konservativer kaum sein konnte: Kalter Krieg, Angst vor Ideen, Angst vor fremden Menschen. — Die farbigen Blumen blühten anderswo. St.Gallen döste, und die Welt bewegte sich. Die USA führten Krieg gegen das vietnamesische Volk, und auf dem ganzen Planeten tobten antikoloniale Befreiungskämpfe. Und die Frauen begannen, ihr Bewusstsein wieder zu erobern. 1971 erkämpften sie sich das Stimm- und Wahlrecht! Minderheiten definierten und artikulierten sich. Coming out. Politisches Bewusstsein erwachte. Pic zog es nach Paris. Nicht aus politischen Gründen, sondern zum Lernen bei Maitre Jacques Lecoq. Trotzdem schrieb er mir im Februar 1973:
„Nun, ich war zum ersten Mal an einer Demonstration. Es war eine «Vietnam-Demonstration» vor dem Amerikanischen Konsulat. Tausende von arg bewaffneten Polizisten. Ich stand in der Mitte der Place de la Concorde. Es erhob sich ein rhythmisches Geschrei: «Nixon assassin» — und da sprengte auch schon eine Doppelkolonne dieser sackgroben Urmenschen heran; alle Demonstranten rannten davon — ich konnte nicht mit meinem Knie —schaute gegen den Himmel, um die Angst zu verdrängen (ein schrecklicher Anblick: so eine brausende Herde) — möglichst unschuldig (war ich ja auch) — und da bekam ich einen Magenbox! — Stell Dir vor: einen Magenbox, wo ich doch das Magenbrot auf dem Jahrmarkt so gern habe.“
Sie sehen, es stimmt: Pic ist ein poetischer Clown. — Und die Poesie ist eine viel tiefere und weitere Welt als die Politik. Und es ist sicher so, wie St.Galler Tagblatt das schrieb, dass „… ein Clown nie so dumm wäre, ein System der Welterklärung entwickeln zu wollen.“ Aber auch ein Clown lebt in gesellschaftlichen Zusammenhängen und ist damit—wie wir alle — ein politischer Mensch. Und natürlich ist es Politik, wenn im Sommer 1975 ein Strassenzirkus in St.Gallen eine seelenlose Verkehrsplanung zu Fall bringt. Wenn ein so viele Menschen bewegt, dass ein Quartier bestehen bleiben kann. Und wenn 4 Jahre später ein Wasser-Variété-Circus die altehrwürdige Frauenbadi rettet. „Picopello“ – was für ein schöner Name für einen Platz. — Schon zu Lebzeiten …
Aber auch wenn wir hier in St.Gallen auf einem schönen, scheinbar friedlichen Plätzchen leben: Die Welt ist schrecklich! Das weiss auch Pic. Er weiss um das Grauen eines Gesellschaftssystems, das den Menschen als Ware behandelt, ihn aussaugt und verhungern lässt, damit sein Profit sich maximiert. Jeden Tag und täglich. Es hat die Welt scheinbar gänzlich erobert und scheint, von hier aus gesehen, unbesiegbar. Widerstand in unseren Breitengraden gibt es kaum. Er wurde zerschlagen, integriert oder zur Folklore verniedlicht. Wir sind ohnmächtig und resignieren ob all der Kriege. Wir sehen machtlos, wie unser Planet um des Profits willen zu Tode gequält wird. — Die Kraft haben, dem Schrecken ins Auge zu sehen. Den Blick nicht abzuwenden. Trotzdem versuchen, warm zu bleiben und Wärme zu geben. Wach zu bleiben und dennoch zu träumen. Trotz alledem. Der deutsche Maler Horst Janssen schreibt: „Zum Trösten braucht’s ein freundlich‘ Herz. (…) nur wer die Menschen wirklich liebt, kann ihre Monstrosität auf solch luftig leichte Art zum Schimmern bringen.“ (Die Schaffhauser Nachrichten)
Und es stimmt, Pic ist ein Menschenfreund. Und die Menschen spüren seine Wärme, die direkt und unverstellt aus seinen Augen und aus seinem Herzen kommt. Ohne Absicht, ohne Zweck. Ohne Hintergedanken —ja ohne Gedanken! Auf keinen Vorteil bedacht—auf nichts bedacht als auf das Leben und die Liebe. Auf die Liebe — als das Gegenteil von Krieg. So universal wie die Liebe — ist auch der Tod. Begleiter jeglichen Lebens. Der Preis, den jeder von uns zu zahlen hat. Unsere eigene Endlichkeit verstehen und ertragen — wie können wir das? Wenn wir wissen, dass kein Lärm unsere Angst übertönt und kein Rausch unsere Trauer betäubt.
Dass keine Flucht gelingt — und jede Seifenblase platzt. „Wir sind wie die Seifenblasen, die Monsieur Pic in unglaublicher Grösse n den Theaterhimmel zaubert, ein kurzes Schauspiel, dann verpuffen wir“, schreibt Dante Franzetti in einem Porträt. Aber bevor sie verpuffen, blühen sie. In ihrer ganzen farbigen Pracht. — Dann dürfen wir vergessen. Die Zeit steht still: Wir sind gerettet. Für einen Moment sind wir frei und leicht. Für einen kurzen Moment. Zu kurz, als dass er Wirklichkeit wird, aber lang genug, dass uns zu Bewusstsein kommt, dass wir voller Möglichkeiten sind. Dass wir mehr können als wir tun. Dass wir mehr wären als wir sind. Dass wir vielleicht sogar gut sein könnten. Dass wir ganz tief und ernst empfinden können — und dabei heiter bleiben. Dass auch die Wehmut heiter ist. Seine Seifenblasen sind das Zeichen. Sie gehören zu ihm seit immer. „Sie sind die poetischste Clownszene der Welt“, sagte Slava Polunin, der grosse Clown aus Russland. Von Helsinki nach Nairobi. Aus dem kleinen St.Gallen in die halbe Welt. Pic ist auf einer langen Reise. Seit über 40 Jahren auf seinem Weg. Wie viele Herzen waren das? Wie viel Freude und Beglückung? Wie viel Pein vorher durchlitten? Und wie viel Lob dafür erhalten. Schon 1970 in einem Atemzug mit den Grossen seines Fachs genannt: mit Marcel Marceau, Dimitri, Grock und 4o Jahre später zusammen mit Oleg Popow! Was für ein Weg! Was
für eine Karriere!
Und in dieser Karriere ist er immer seiner Idee treu geblieben. Seinem Werk, seiner Linie, seiner Lebenssicht. Er hat immer an seinem Programm gearbeitet. Hat es verändert, so wie er sich verändert hat.
Alle Stationen aufzuzählen, ist hier nicht möglich. Ebenso unmöglich ist es, alle Menschen zu erwähnen, die auf seinem Weg wichtig waren und sind. Und ich meine damit nicht nur seine Tochter Jil, die so viel bedeutet. Oder seinen Bruder Fritz Hirzel, der viel mit ihm erarbeitet hat… Und natürlich kann ich hier auch nicht endlos weiterzitieren. Aber es beeindruckt einen Provinzler wie mich schon, wenn ihm Peter Palitzsch, Mitarbeiter von Brecht und Direktor des Berliner Ensembles, schreibt: „(…) wir alle waren sehr beglückt und geradezu begeistert von Ihren Arbeiten. So viel Poesie, so viel zarte Genauigkeit, so viel graziler Humor!“ Und wenn Andy Warhol schwärmt: „Etwas vom Besten, was ich je gesehen habe.“
All dies Lob von höchster Seite ist ihm nicht zu Kopf gestiegen. Dazu ist er zu weise. Und zu bescheiden. Nicht diese geheuchelte Bescheidenheit, die bei uns zur Etikette gehört. Sondern eine Bescheidenheit, die aus dem Wissen um die Vergänglichkeit kommt. Aus dem Wissen, wie klein wir sind. So klein im Raum — so kurz in der Zeit. Umso schöner ist ein kurzer Moment wie dieser: Der Grosse St.Galler Kulturpreis ist eine wunderbare Anerkennung für seinen ganzen bisherigen Weg. Und: „der Prophet im eigenen Land?“ Das ist das Schönste! Lieber Pic, im Namen von uns allen gratuliere ich Dir von ganzem Herzen!
Sehr geehrte Damen und Herren
Sehr geehrte Gäste
Lieber Pic
Ein 61-Jähriger, der seit 42 Jahren über 6o00 Mal aufgetreten ist und auf Bühnen zwischen Moskau und Utrecht und von Schweden bis nach Senegal sein Publikum verzaubert hat — dieser Mann erhält heute den Grossen St.Galler Kulturpreis. Der Schweizer Clown Pic hat diese Auszeichnung seines Heimatkantons mehr als verdient. Ich freue mich und bin stolz darauf, ihm im Namen der St.Gallischen Kulturstiftung zu diesem Preis ganz herzlich gratulieren zu dürfen.
Pic — drei Buchstaben, ein Künstlername und noch viel mehr: Pic ist zu einem Markenzeichen geworden. Legendär sind seine Auftritte beim Zirkus Knie, nachhaltig hat Pic den Variété-Zirkus Roncalli geprägt, und auch mit seinen Soloprogrammen spielt er sich in die Herzen der Menschen. Pic ist auch ein Poet und ein Zauberer, denn ein Poet arbeitet mit dem Zauber. Allerdings braucht Pic weder Zauberstab noch schöne Worte, vielmehr setzt er auf Bilder, auf Mimik und Körpereinsatz. Und wenn seine Figuren in seinem neuen Programm sprechend sind, so sind es die ganz prosaischen Nöte des Alltags, die zur Sprache kommen. Wir lachen über den Menschen auf der Bühne, der scheitert in der Liebe, scheitert beim Gebrauch des Sekundenklebers und sich an vielen weiteren, kleinen Dingen des Lebens die Zähne ausbeisst. Aber eigentlich lachen wir über uns selbst, denn der Typ und was ihm zustösst, kommt uns sehr bekannt vor. Pic — das ist auch für St.Gallen ein nachhaltiger Clown. Nicht nur, dass er hier geboren und aufgewachsen ist und mitten in der Stadt, an der Felsenstrasse, lebt und in seinem Atelier sein Lebenswerk vorantreibt, seine Programme erfindet und entwickelt, mittlerweile auch malt und manchmal kleine Texte schreibt. Mit seinen von ihm und seinem damaligen Bühnenpartner in den 7oer-Jahren initiierten Pic-o-Pello Zirkusprojekt hat er es geschafft, die Stadtbevölkerung auf ein bedrohtes Altstadtquartier und auf die ebenso vom Abbruch bedrohte Badi auf Dreiweihern aufmerksam zu machen.
Pic, ein Clown, der damals noch keine dreissig war und gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft geblickt hat. Ein Künstler, der sich einmischte und mit seinen eigenen Mitteln in die Stadtpolitik eingriff und zusammen mit andern etwas erreicht hat damit, von dem wir alle heute noch profitieren. Pic —das ist auch ein Botschafter für unsere Region. Und die Städte und Kantone, die von sich behaupten können, einen Clown als Botschafter zu haben, sind rar! Natürlich wir haben die Bratwurst. Und die Olma. Und das Kloster. Wir haben auch Roman Signer und Pippilotti Rist, wir haben Eveline Hasler und Niklaus Meienberg, wir haben Ruedi Lutz und Karl Zwicker. Wir haben die Lokremise, das Bad Pfäfers, das Kunstzeughaus Rapperswil und das Schloss Werdenberg. Und wir haben Pic, den Clown, der uns und unsere Träume beobachtet. Träume sind Schäume, sagt man. Träume zerplatzen wie Seifenblasen. Pic ist einer, der mit diesem anfälligen Material arbeitet, mit diesem Stoff, den normal Sterbliche nicht zu fassen kriegen. Pic— das ist aber auch, was viele von Ihnen wahrscheinlich nicht wissen, ein ausgezeichneter Fussballer. Zuerst miteinander, später gegeneinander haben wir als Junioren die Ostschweizer Fussballwelt nicht gerade beherrscht, aber mitgeprägt. Wie ich ist er nach wie vor ein Fan des FC St.Gallen, und gemeinsam fiebern wir jedes Mal von Neuem mit, wenn der FC zum x-ten Mal sportlich und strukturell gerettet werden muss.
Die St.Gallische Kulturstiftung zeichnet heute also einen Träumer aus — das ist kein Traum! Pic, wir gratulieren dir ganz herzlich und wünschen dir für die Zukunft alles Gute, Schaffenskraft und gesunde Knochen. Denn was du machst, ist zwar ein Traumjob, aber auch Knochenarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Deshalb wünsche ich dir: Träume weiter, lange und gut. Spinne deine poetischen Fäden, unbedingt, denn wir lassen uns gerne damit umgarnen und trauen deiner Zauberei.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde. Als wir auf der zweiten Tournee mit dem Zirkus Knie nach St.Gallen kamen, hat es stark geschneit. Das lieben Zirkusarbeiter gar nicht, weil es schwierig ist, das Zelt aufzubauen. Wenn sie das Zelt oben haben, wird die Heizung auf vollen Touren laufengelassen, damit der Schnee gleich wieder schmilzt, wenn er aufs Zelt kommt. Am Nachmittag der ersten Vorstellung bin ich dann zum Garderobewagen gegangen und es war sehr kalt da. Ich habe sofort die Heizung angeworfen, aber nach einem kurzen Moment war sie aus, weil die Gasflasche leer war. Im selben Moment stand ein Reporter vom lokalen Radio da und fragte mich: „Ja, wie ist es denn, mit dem Zirkus in St.Gallen zu sein?“. Ich habe geantwortet: „Es schneit in St.Gallen“.
Natürlich freue ich mich sehr über diesen schönen Preis und möchte mich herzlich bedanken dafür. Ich möchte mich auch bedanken, bei allen die hier vorne gestanden haben. Gülsefa Dogan für den wunderbaren Gesang, Michael Naef und seinen Leuten. Selbstverständlich auch der Begleitung von „le saint fa“. Michael Naef und seine Leute haben extra den Galopp einstudiert für heute, von Schostakowitsch, vielen Dank. Dann Jürg Kesselring, Peter Kleger und Hanspeter Wider für die so schöne Laudatio, vielen Dank. Dann möchte ich mich bei meiner Crew bedanken, die mit mir unterwegs ist. Das ist für Licht und Mitarbeit Lorenz Knöpfli, für den Ton Pierre Bendel und für die Bühne Claudio Brisotto. Vorher hat das 25 Jahre lang Martin Steiner gemacht und 25 Jahre dauert auch die Zusammenarbeit mit meiner Agentin Marilies Düsterhaus. Dann Dank an meinen Bruder Fritz, der viele Jahre mein künstlerischer Berater war. Manchmal auch Ko-Autor oder Regisseur. Dank an meine Tochter Jil für die Anteilnahme und Dank an meine liebe Pascale, für ihre Unterstützung, auf die ich seit so vielen Jahren zählen darf.
Nun, was hat mich denn inspiriert. Angefangen hat es damit, dass in St.Gallen der Zirkus Pilatus stand. Da waren drei Clowns, ein Klassisches Trio. Dass heisst, zwei August und ein Weissclown. Und die haben mich verzaubert. Ich bin nach Hause gekommen und habe gesagt, so etwas möchte ich werden. Und vor ein paar Jahren habe ich von einem Zirkuskenner erfahren, wer das eigentlich war. Das waren sehr gute Clowns. Das war Max van Enden, der Langjährige und beste Partner von Grock. Das war Pionoque, der später in Amerika auf dem Hochseil über den Löwenkäfig gelaufen ist. Dessen Wunsch es übrigens war, in der Manege zu sterben und sein Wunsch ist ihm mit 77 Jahren in Dortmund in einer Vorstellung in Erfüllung gegangen. Und der dritte war klein Helmut, der später bekannt wurde in der Fernsehserie Salto Natale. Dann hatte mein Bruder Fritz, bei dem ich mich vorhin bedankt habe, einen 16 Millimeter-Projektor und ein paar wenige Kurzfilme. Und neben Fips der Affe, hatte er Carlo als Feuerwehrmann. Und den schauten wir uns sehr oft an. Wir haben mit ihm gelacht, wir haben mit ihm geweint, und da begann meine grosse Liebe für Chaplin. Denn man kann ja alles lernen über Komik bei Chaplin. Vielleicht ein kleines Beispiel, das so genannte double Image. Ein Bild, das zwei oder mehrere Bedeutungen hat. Also Chaplin bekommt von seiner Verlobten einen Brief. Sie schreibt ihm, dass sie ihn verlässt. Im nächsten Bild sieht man Chaplin von hinten. Es schüttelt ihn, man denkt, er weint. Er dreht sich aber um und hat einen Schüttelbecher in der Hand, er mischt sich einen Cocktail. Dann lernte ich bald einmal die Arbeit von Carl Valentin kennen. Sein Umgang mit der Sprache und sein skurriler Humor haben mich sehr begeistert. Und schon ein paar Jahre später nahm ich mit einem Schulfreund zusammen an einem Amateur-Artistenwettbewerb teil und wir spielten in eigenen Sketchen den verflixten Notenständer von Carl Valentin. Es war sehr schön für mich, Jahre später das erste Gastspiel in München in Tams zu machen, bei Anette Spoiler und Philippe Arp in ihrem Theater. Denn sie spielten dort Valentinari, also Valentin nachempfundene Sketche. Und es war auch sehr schön für mich, noch viele Jahre später, ein Jahr lang mit einem anderen Nachfahren von Carl Valentin zu arbeiten. Nämlich mit Gerald Polt. Dann spielte man in St.Gallen im Kino Korso Jo-Jo von Pierre Retex, das ist eine Filmkomödie, die im Zirkusmilieu handelt. Und ich war hin und weg von der Art und Weise, wie es Retex gelungen war, so subtil und lustig eine Geschichte zu erzählen. Man spielte den Film eine Woche lang und ich war jeden Tag da. Ich weiss gar nicht mehr, wie ich mir das finanziert hab. Wahrscheinlich war das der Moment, wo ich im Juniorheftchen meinen Occasionsplattenspieler zum Verkauf angeboten habe. Als ich in Paris studierte, als ich in der Theaterschule von Jacques Leqoc war, in Paris, da machte Pierre Retex einen Abstecher zum Theater und ich ging zu seiner Premiere, Aqua en joue, im Theater Eberten. Das Stück handelte vom Abriss des Cirque Medrano. Der Cirque Medrano, wo noch Passarciten und Cener Dolli aufgetreten waren. Und nach dem Auftritt holte ich das einzige Autogramm meines Lebens. Jahre später standen wir mit Knie in Nyon auf dem Güterbahnhof. Also die Wohnwagen standen auf dem Güterbahnhof und es klopfte an meine Türe – und es war Pierre Retex. Er hatte am Abend vorher die Zirkusvorstellung besucht und wir konnten an einem warmen Septembertag im freien auf dem Güterbahnhof in Nyon zusammen Mittag essen.
Dann waren wir einmal in einem Sportlager mit der Schule in Tenero und da sah ich ein Plakat von Dimitri. Er spielte damals in einem Kellertheater in Ascona. Ich machte mich am Abend aus dem Staub und während dieser Vorstellung gab es einen magischen Moment. Drei, vier Sekunden stand die Zeit still. Es gab eine Verschmelzung oder Verbindung zwischen Publikum und Akteur, es war unglaublich. Und seither bin ich auf der Suche nach solchen Momenten. Mit der Zeit kamen die Inspirationen mehr aus dem Leben. Zum Beispiel sprach meine Tochter nicht gerne Englisch mit mir, sie sagte: „Du kannst es nicht, du weisst ja, deine Aussprache!“. Da bin ich ins Dach hochgegangen und habe einen alten Englischkurs runtergeholt und hab eine Kassette eingelegt, lag am Boden. Während diesem Kurs hatte ich das Gefühl, die Englischlehrerin spricht mit mir. Und daraus wurde eine Szene, die dann hiess Englisch für Anfänger. Wo ich mich in die Stimme der Englischlehrerin verliere, verliebe und am Schluss mit einem langen weissen Bart dasitze. Mit der Zeit wurde die präzise Beobachtung wichtiger. Vor allem bei der Arbeit mit Masken, zusammen mit dem emotionalen Gedächtnis und auch dem genauen Zuhören. Man hat ja manchmal das Glück, im Zug zu sitzen, und vom Nebenabteil hört man ein Gespräch und man kann einfach mitschreiben. Glück und Zufall gehören zur Inspiration. Dann ist es manchmal ein Text aus den Medien.
Bei der ersten Tournee im Knie hatte ich mit einem Schmetterling gearbeitet. Gut, der Schmetterling wurde von einem Nilpferd gespielt. Für die zweite Tournee fehlte mir noch eine Szene mit einem Tier, denn man möchte ja profitieren von der reisenden Tiershow und dass es die Möglichkeit gibt, überhaupt mit einem Tier einen Auftritt einzustudieren. Und da las ich einen Artikel über Hühnerzucht. 6000 Hühner in einer Halle und die leben sechs Wochen. Jedes Huhn hat ein A4-Blatt Platz und nach sechs Wochen werden sie geschlachtet. Und da hatte ich das Bedürfnis, dem Huhn zu Ehren eine Szene zu machen. Und das wurde dann die Szene Aus dem Leben eines Huhns.
Dann passiert es manchmal in der Improvisation, dass die Inspiration kommt. Oder im Dialog mit der Person, die zuschaut oder mit der man die Nummer einstudiert. Aber die Improvisation ist sehr dankbar. Es gab auch Momente, wo die Musik die Inspiration war. Ich habe mal eine Schallplatte zugeschickt bekommen, von Lidi Ofre. Das ist eine französische Akkordeonistin. Sie hatte eine Vorstellung in Hannover besucht im Zirkus en Calle und hatte mir auf dieser Platte ein Stück gewidmet. Dieses Musikstück war wiederum dann die Basis für eine Szene, die Tanz der Kreaturen hiess. In den letzten Jahren ist Croque für mich mehr und mehr eine Inspiration geworden, weil er ein Leben lang an der gleichen Stunde gearbeitet hat. Er hat verfeinert und reduziert. Er hat jeden Tag denselben Abend gespielt, aber jeden Tag neu geboren. Das versuche ich im Moment mit dem jetzigen Theaterabend. In wie weit die Krankheit meines Vaters, die unsere 6-Köpfige Familie peinigte, wie weit die Trauer und der Schmerz darüber eine Inspiration war, ist für mich schwer zu sagen. Jedenfalls merkte ich bald einmal, dass Komik den Winkel vergrössert. Aber ich wurde auch wahrscheinlich dadurch sensibel auf die Art des Lachers, worüber wird gelacht. Und wahrscheinlich hat das auch das Bedürfnis vergrössert, der Realität noch ein kleines Stück anzusetzen.
Ich freu mich sehr, dass Sie heute hier her gekommen sind und ich möchte Ihnen danken.
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