Die Autorin Maya Olah wird ausgezeichnet für ihre präzise und unaufgeregte Sprache, ihre engagierte Auseinandersetzung sowohl mit den Problemen unserer Zeit als auch mit dem Unterbewussten. Ihre Texte lassen einen verwandelt zurück. Maya Olah arbeitet häufig Disziplinen übergreifend und denkt Literatur performativ – so etwa in ihrem VideoEssay «Im Hallenbad», entstanden 2021 im Volksbad St. Gallen, oder in ihrem neusten Projekt «Ein Totentanz», das Performance, Sound und Literatur verwebt. Das Stück, das einen mittel alterlichen Text neu interpretiert, wurde 2023 im Alten Krematorium auf dem Zürcher Friedhof Sihlfeld uraufgeführt und geht den Fragen nach, wie wir mit den Toten und unseren tiefsten Ängsten kommunizieren. Maya Olah weiss in ihren Projekten eindrücklich auf Aufführungsorte oder Ausstellungssituationen einzugehen und verbindet sie gewandt mit verschiedenen Erzählsträngen.
Wer sich schreibend aufmacht, die Welt und sein Selbst zu erkunden, geht ein beträchtliches Risiko ein. Vor jedem Schreibkurs und jedem Mentorat müsste es deshalb heissen: Schreiben kann Ihre Gesundheit gefährden. Schreiben hat ein Suchtpotential und kann schwere Störungen im Ichhaushalt hervorrufen. Schreibend kann man, auf dem Weg zu mehr Selbst-Gewissheit, vor lauter Selbstentwürfen und Verspiegelungen sich selber aus den Augen verlieren. Schreibende Menschen sind für Alltagsverrichtungen verloren; ich selber kenne die Hilflosigkeit, einen Nagel gerade in die Wand zu schlagen- einen Satz mit drei Nebensätzen zu formulieren fällt mir leichter.
Nichtsdestotrotz bildet Schreiben heute für viele ein Faszinosum. Auch für Maya Olahs, deren Romanentwurf mich von Anfang an überzeugt hat. Die Geschichte Valentina, einer studierten Biologin, die an einer Autobahn-Tankstelle jobbt, beginnt ganz harmlos. Valentina steht hinter der Theke des kleinen Ladens und verkauft Raucher-, Trink- und Esswaren. Da taucht ein Mann namens Frederik auf. Valentina steigt ein und fährt mit ihm bis nach Paris, denn da lebt ihre Schwester Tereza, zu der sie eine vertrackt-innige Beziehung hat. Obwohl es nicht zu einem Treffen kommt, nähert sich Valentina ihrer Schwester über ein ambivalentes Denkbild an: sie entdeckt im Museum das Skelett zweier berühmter Siamesischer Zwillinge. Rita und Cristina, zwei nahe Schwestern, wurden in mehreren Städten ausgestellt, an ihnen wurden sogar Experimente ausgeführt. Ein erschütterndes Kapitel Medizingeschichte tut sich auf.
Aber sind nicht alle Geschwister irgendwie zusammengewachsen? Und kann diese Nähe nicht auch Monströses gebären?
Der Roman zieht hier eine selbstreferentielle Schlaufe ein, man könnte auch sagen: im Erzählboden geht eine Falltüre auf und lässt uns in die Abgründe menschlicher Individuation blicken.
Mayas Ausschreibung hat mich auch deswegen angesprochen, weil ich mich in jener Zeit gerade intensiv in meinem Roman «Ein Stück Himmel» mit der Medizingeschichte befasste. VULNERANDO SANAMUS – wir heilen, indem wir verwunden. Dieser Satz, der über der alten Chirurgie in Giessen steht, umschreibt unsere westliche Medizin.
Ich war also von der Sache her gewappnet. Und dennoch musste ich genau überlegen, wie man am besten eine junge Schreibende begleitet.
Ein Mentorat ist ja keine Indoktrination und nicht einfach ein Wissenstransfer, schon deswegen nicht, weil es in der Literatur nicht um Wissen, sondern um Wahrnehmung und Erfahrung geht. Und es geht nicht darum, die Sprache der Begleitperson zu übernehmen, sondern die eigene zu finden. Ein Mentorat ist also wie ein gemeinsamer Spaziergang, bei der mal der eine, mal die andere die Richtung vorgibt. Zusammen gehen wir durch Städte und über die Dörfer, streifen durch Themenlandschaften, diskutieren über Motive, Spannungsbögen, loten Psychologisches, Soziales und Philosophisches aus und vertiefen uns in die Sprache. Ich kann zwar dreinreden, aber ich darf nicht bestimmen, denn die künstlerische Freiheit der Schreibenden ist oberstes Gebot.
Dabei lagen die Qualitäten von Maya Olah’s Prosa auf der Hand. Ich zitiere eine Stelle aus dem Manuskript «Dizephalus» (Doppelköpfigkeit), in der sich Valentina in einem inneren Monolog an ihre Schwester wendet:
Wir setzen mitten im Gespräch ein, kein Hallo wie geht’s, keine Einleitung. Wir müssen Zeit nachholen, die verlorene Zeit. Ich kenne alle Sommersprossen, die kleinen Fältchen, die sich am Mundwinkel bilden, wenn du sprichst. Gestochen scharf bist du in meinem Traum. Aber mit kurzen Haaren, die alte Version von dir, bevor du nach Paris gezogen bist. So erinnere ich mich an dich.
In einer Sprechpause ziehst du deinen kleinen Klappspiegel hervor und fängst an, deine Lippen rot nachzuziehen. Dein Spiegelbild wird an die Wand hinter dir projiziert. In Großaufnahme sehe ich dein schönes Gesicht, sehe, wie der Stift deine Lippen hochzieht. Auf einmal verformen sich deine Züge, sie zerfließen. Dein Auge hängt am Kinn, die Stirn formte ein großes S. Als wärst du eine niederbrennende Kerze. Wachsbäche in deinem verschmolzenen Gesicht.
Schwindelerregend, wie die Autorin hier die Erzählebenen doppelt und dreifach verspiegelt. Träumt Valentina von sich? Welches Bild steckt hinter der bis ins Detail der Sommersprossen beschriebenen Schwester? – Und dann genügen wenige Sätze, damit sich das schöne Schwesterngesicht ins Abnorme, ins Krankhafte, ins Schauderhafte verformt – und damit das Motiv der siamesischen Zwillinge vorwegnimmt. Diese Stelle ist in ihrer mehrfachen Codierung beeindruckend.
In einem anderen Text, in dem von Maya edierten Sammelband «Ein Totentanz», geht es ebenfalls um Verwandtschaft und um die Verschränkung von Tod und Leben. «Die Toten trinken Wasser und essen Huhn» spielt in Guatemala, wohin es die Erzählerin zu ihrer Verwandtschaft zieht. Dort erlebt sie einen hundertfach in den Alltag eingewobenen Tod. Und wieder taucht, in der Erzählung von Donna Socorra, das Schicksal von zwei Babies auf, bei denen nur eines überlebt. Begleitend bei diesem «Totentanz» ist auch die Allgegenwart der Gewalt der Soldaten.
Diese beiden Texte lassen motivisch bereits ein Grundthema von Maya Olah anklingen. Es könnte lauten: die Gewalt von Verwandtschaft, der Umgang mit dem Tod. Maya hat sich, sie hat uns ein Problem gestellt. Sie wird, wie jede ernsthaft Schreibende, dieses Problem verlassen und darauf zurückkommen, in immer wieder neuen Varianten. Vielleicht wird sie dieses Problem nie lösen, weil Literatur ja keine Ratgeberei ist. Aber sie wird es so genau und vielfältig zur Darstellung bringen, dass sie uns, den Lesenden, ein Erkenntnis- und vielleicht auch Lösungsmittel an die Hand gibt. Schreiberfahrung ist ohne Lebenserfahrung nicht zu denken. Das Schreiben – wie auch das Lesen – ist eine Verdoppelung des Lebens. Abgesehen davon, dass jeder gute Text ein Geschenk an die Gesellschaft ist, wird Maya sich auch selber beschenken.
Ich habe anfangs darauf hingewiesen, dass Schreiben für viele junge Menschen ein Faszinosum ist. Warum will jemand aufs Geldscheffeln verzichten, warum den steinigen Weg einer nie gesicherten Karriere auf sich nehmen? Warum wählt jemand eine Tätigkeit, von er ahnt, dass sie ihn Tag und Nacht beschäftigen und ihm keine Freizeit und keine Ferien gewähren wird?
Weil Schreiben Sinn macht! Weil Schreiben eine Investition in die beste aller Währungen ist. Wer etwas Sinnvolles macht, vermehrt sich selber, hält den Blick frisch, verjüngt die Zellen und hat sogar die Chance, unsterblich zu werden.