Dem Ballett eine Bedeutung zu verleihen, die sich ganz im Heute, in den Herausforderungen und Spannungen der Welt, in der Zerrissenheit aber auch den Glücksmomenten menschlicher Existenz verankert, das charakterisiert das Schaffen von Martin Schläpfer als Choreograf und Tänzer. Ohne sie zu verleugnen, bricht er Traditionen auf und führt sie in die Avantgarde. Dem Spitzentanz verleiht er eine zeitgenössische Aktualität und lotet zugleich alle Facetten moderner tänzerischer Bewegung aus. Er beweist mit seiner Kompanie wie auch selbst als Tänzer, dass der Ausdruckskraft des Körpers keine zeitlichen Schranken auferlegt sind. Seine Choreografien sind von Dringlichkeit und Intensität geprägt, die immer wieder in poetisch lichte Momente münden.
Für sein international bedeutendes Schaffen zeichnet die St.Gallische Kulturstiftung Martin Schläpfer mit dem Grossen Kulturpreis aus.
Frau Präsidentin,
sehr geehrte Festgäste,
lieber Martin,
ich danke für die freundliche Vorstellung. Unerwähnt blieb dabei nur mein Quereinstieg in die Welt des Theaters. Meinen Berufsweg habe ich nämlich als Journalist begonnen. Als mich ein designierter Direktor, Egon Seefehlner, tollkühn zum Ballettdirektor der Wiener Staatsoper ernannte, und damit zu einem Amtsvorgänger des heute von uns zu ehrenden Martin Schläpfer, spielte es für ihn keine Rolle, dass mir Führungserfahrung fehlte, und vieles andere mehr, und dass man sein Haus zwar als beste Adresse, aber auch als schlechteste Schule für einen jungen Administrator ansehen konnte. Geld spielte kaum eine Rolle, die Gewerkschaft eine wichtige. Was man Budget nannte, fand auf einem Blatt Papier Platz. Handgeschrieben.
Im kommenden Jahr findet der neue Direktor in Wien ein anderes Haus vor. Das Geld spielt eine grosse Rolle, die Gewerkschaft nicht mehr. Wer ist dieser Nachfolger, wer ist Martin Schläpfer? Wikipedia rubriziert ihn als Tänzer. Als Tänzer ist er ausgebildet, anfangs hier in St. Gallen, durch Marianne Fuchs, später an der Royal Ballet School in London, als Tänzer ist er auch berühmt geworden, zum einen als Preisträger beim Prix de Lausanne, zum anderen durch zehn Solistenjahre bei Heinz Spoerli in Basel.
Zwischendurch tanzte Martin Schläpfer ein Jahr lang im fernen Winnipeg – und rückte auf zum Principal Dancer. Was bis heute in seinem anglo-alpinen Sprachgemisch recht lustvoll nachklingt. Und Tänzer ist Martin Schläpfer bis heute auch geblieben. Vor einigen Jahren hat ihm kein Geringerer als Hans van Manen mit dem Stück Alltag einen kollegialen Kranz gewunden, und er schlug dabei die dramaturgische Volte, den Tänzer Martin Schläpfer seine eigenen Werke zitieren zu lassen.
In unserer Mitte sitzt er heute nicht nur als Tänzer, sondern auch als ein erfolgreicher, geachteter und weitblickender Ballettdirektor. Es gibt auch deren nicht viele. In der Hauptsache würdigen wir heute jedoch einen dritten Martin Schläpfer, den Angehörigen einer verschwindend kleinen Gruppe schöpferisch Tätiger, die man Choreographinnen und Choreographen nennt. Die wirklich Guten unter ihnen sind rarer als weisse Trüffeln. Wer kritisch prüft, wie viele als prägend oder gar wegweisend anzusehen sind, wird kaum zwei Hände brauchen, und er wird dabei den genannten Hans van Manen einschliessen.
Was leisten sie, die Choreographinnen und Choreographen? Sie machen Tänze. The Art of Making Dances nennt Doris Humphrey, eine der Grossen, ihre Kunst. Was schön gesagt ist, aber zu kurz greift. Der Tanz ist eine Urform menschlichen Ausdrucks. Manche Ethnographen postulieren sogar, dass unsere Vorfahren tanzten, ehe sie sprachen oder sangen. Vielleicht musizierend tanzten, sowie man die ersten Pfeifen schnitzte, also vor rund hunderttausend Jahren. Sie tanzten Liebe und Hass, Glück und Schmerz, Geister und Götter, sie tanzten das Leben und den Tod. Sie tanzten Zeit und Raum.
Wir kennen die Choreographen der frühen Menschheitsgeschichte nicht. Wir kennen Felszeichnungen und Höhlenmalereien, wir kennen bronzene Statuetten und antike Vasen, aber verlässliche Quellen schriftlicher Art sind selten. Bis in die frühe Blütezeit des Bühnentanzes hinein sollte es dauern, also bis zum klassisch genannten Ballett, ehe dessen Schöpfer, die Choreographen, auch dem Namen nach bekannt geworden sind. Zwei von ihnen – Franz Hilverding van Weven und Gasparo Angiolini – wird Martin Schläpfer demnächst in seiner Ahnengalerie finden.
Von keinem von ihnen, auch nicht von ihrem noch berühmteren Kollegen Jean Georges Noverre, sind tänzerische Zeugnisse ihres Schaffens erhalten geblieben, und diese schmerzliche Lücke kennzeichnet eine weitere Besonderheit des Mediums Tanz. Seine überlieferten Traditionen sind so karg, dass man sich umso fester an die Erbstücke klammert. Weil ihm Sprache und Schrift fehlen, ist der Tanz eine Kunst des Augenblicks. Er entsteht und vergeht, flammt auf und verglüht.
Natürlich kennen und nützen wir längst auch Tanzschriften und Dokumentationen filmischer Art, die eine Vorstellung geben von Bewegungsabläufen in Raum und Zeit. Vieles für den künstlerischen Ausdruck Wesentliche ist jedoch nicht vermittelbar. Wie sollte man, beispielsweise, so Ungreifbares festhalten wie künstlerische Aura oder tänzerischen Eros? Unter den Künsten ist der Tanz die vergänglichste. Was gleichermassen Fluch und Glück ist, denn er ist nie Vergangenheit, stets Gegenwart. Tanz ist immer live. Umso mehr sind es die schöpferischen Autorinnen und Autoren, die Interesse verdienen.
Heute ist Martin Schläpfer der Autor, den wir ehren. Er steht an einem Wendepunkt. Was Grund genug ist, ihn und sein Wirken auch in eine historische Perspektive zu stellen. Er hat in den vergangenen 25 Jahren, einmal fünf und zweimal zehn Jahre lang, drei Ensembles geformt und geführt, zunächst in Bern, später in Mainz, zuletzt in Düsseldorf und Duisburg, der Deutschen Oper am Rhein, und er hat das allerorten mit einer so glücklichen Mischung aus tanzpädagogischer Kompetenz, direktorialer Bestimmtheit und schöpferischem Genius getan, dass wir ihn heute als eine der führenden Persönlichkeiten feiern können.
Was Martin Schläpfers Aufstieg beschleunigte, war der Umstand, dass er in jeder der drei Städte rasch geschätzt und unterstützt worden ist. Nirgendwo sah er sich behindert oder abgelehnt. Wozu kam, dass schon der junge Martin Schläpfer eine Lebenskrise zu meistern verstand. Er stand auf dem Höhepunkt seines Tänzerlebens, als er im Alter von 27 Jahren eine Weltkarriere abbrach und, so sagt er, durch viel Dunkles gehen musste, Hartes, auch Schmerzhaftes.
Seine Mittel und Wege der Selbstfindung sind beeindruckend. Dreimal bewältigte Martin Schläpfer alle Schwierigkeiten der Anfänge, um für sich – und eine Reihe weiterer Choreographen – alle Voraussetzungen zu schaffen für die wirklich kreative Arbeit. Es ehrt ihn als Direktor wie als Kollegen, dass er sich nirgendwo die Konkurrenz vom Leibe schaffte, sie vielmehr auf höchstem Niveau suchte – und allen Vergleichen auch standhielt.
Martin Schläpfer hat, nach steilem Aufstieg, als schöpferischer Künstler eine Hochebene erreicht, die Versuchung sein könnte, dort eine Zeit lang zu verweilen. Sein Ruhm und Rang stehen ausser Frage. Bequemlichkeit ist ihm jedoch so fremd wie jeder Anflug von Selbstgewissheit. I’m a little bit of a maniac, die ironische Selbsteinschätzung hat einem Dokumentarfilm über seine Arbeit sogar den Titel geliefert.
Was ihn, nach eigenem Zeugnis, entscheidend antreibt, sind Ängste. Nicht Lebensängste oder Depressionen, sondern: Kreationsangst… Die Angst, nicht zu genügen… Ich glaube, nie gut genug zu sein. Wie Martin Schläpfer damit umgeht, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Arbeit. Er hört in sich hinein, grübelnd, zweifelnd, bohrend, er tastet sich vor in Bereiche ohne jeden Haltegriff. Ich zitiere ihn: Das Dunkle kommt woanders her, aus der Psyche, aus dem Fragen, was wir sind. So ist auch meine Arbeit mit dem gespannten, ja überspannten Körper nicht einfach nur die Lust am Extremen. Es ist der Versuch, durch eine Intensität in eine Erhöhung zu gelangen, in eine Transzendenz, vielleicht zu Gott – zu einem Gott, der den Teufel zum Freund hat.
Martin Schläpfer sucht Reibungen, Widerstände, Zuspitzungen. Daraus erwächst ihm seine mentale Kraft. Er hätte, jeder Zoll ein Kind aus dem ausserrhodischen Appenzell, auch keine Scheu, einen Stier bei den Hörnern zu packen. Es sind die grossen Fragen und die grossen Herausforderungen, die er sucht, und seine Kühnheit, selbst das scheinbar Unmögliche anzugehen, wird auch seinen nächsten Lebensabschnitt prägen.
Wien, wo er es leisten will, ist keine zufällige Wahl. Nirgendwo sonst hat sich die Kulturgeschichte über Jahrhunderte hinweg so fruchtbar in der Musik manifestiert, und in diesem Wien will Martin Schläpfer sich noch einmal dem Thema der musikalisch-choreographischen Interdependenz stellen, dem Zentrum seines künstlerischen Tuns und Denkens. So tief reicht seine Verwurzelung in der Musik, dass er sich gleichsam vor Ort mit den Meistern aller Wiener Schulen auseinandersetzen will, von Joseph Haydn über Schubert, Brahms, Mahler und Alban Berg bis zu Ligeti. Vielleicht begegnet er demnächst auch der Leitfigur einer Vierten Wiener Schule, Beat Furrer, einem Landsmann aus Schaffhausen.
Unmögliches Wirklichkeit werden lassen: Martin Schläpfer hat erkannt, dass auch die reichste Kulturgeschichte ihre Lücken hat. In Wien ist es die Tanzgeschichte. Man muss zurückgehen bis ins Jahr 1761, um den noch immer jüngsten Beitrag zu finden, der musikalisch und choreographisch auf der höchsten Höhe einer Epoche angesiedelt war: Christoph Willibald Glucks und Gasparo Angiolinis Gemeinschaftswerk Don Juan. Rund zwei Jahrzehnte lang war Wien der Nabel der Ballettwelt, aber es blieb bei dieser kurzen Glanzzeit. Mozart, Beethoven und die ganze Heerschar kongenialer Nachfahren haben ihr kreatives Gegenüber nie gefunden, weil es sich allenfalls um gute Ballettmeister handelte, nicht um Choreographen von Rang. Von Arnold Schönberg stammt das böse Wort, es sei nicht das landesübliche Ballettgehüpfe, woran er in Moses und Aron beim Tanz ums goldene Kalb denke.
Nur zweimal in diesen vielen Jahrzehnten schien es, als nehme eine wirklich kreative Persönlichkeit die Zügel in die Hand, doch zweimal war die Chance bereits vertan, ehe die Arbeit richtig begonnen hatte. Auguste Bournonville, dem das Dänische Ballett seinen Weltruhm verdankt, verliess Wien bereits nach zwei Produktionen. Die geniale Bronislawa Nijinska wiederum, im Herbst 1930 als grosse Hoffnung erwartet, verabschiedete sich so schnell, dass ihr Werkkatalog eine einzige Wiener Arbeit verzeichnet, die Tanzeinlagen zu Weinbergers Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer.
Was für Martin Schläpfer vielleicht deprimierend klingen mag, jedoch keine Warnung und schon gar nicht Entmutigung sein soll. Im Gegenteil. Ich möchte die Chance beschreiben, die er im kommenden Jahr vorfindet, und diese Chance ist in Stein gemeisselt. Wer sich im Foyer der Wiener Staatsoper umsieht, wird über dem Treppenaufgang zwei Reliefs entdecken, die man 1869, vor genau 150 Jahren, als Programm des Hauses eingemauert hat. Zur Rechten figuriert die Opera, zur Linken das Ballet, und zwar gleichrangig. Wer das Haus als Heiligtum betrachtet, und das sind nicht wenige der Besucher, wird sie die Evangelienseite nennen.
In ihrer Geschichte gilt Gustav Mahler bis heute als der bedeutendste Direktor der Wiener Staatsoper. Er komponierte zwar keine Oper, aber er setzte für das Musikdrama programmatisch und qualitativ neue Maßstäbe. Er glänzte nicht nur am Dirigentenpult. In Tatgemeinschaft mit Alfred Roller war er darauf aus, die Oper auch szenisch zu erneuern. Gescheitert ist Mahler jedoch am Ballett. Als Direktor auch dafür verantwortlich, beliess er es in seiner Provinzialität. Natalie Bauer-Lechner, eine Vertraute, bezeugt seine Antwort auf die Frage, ob er denn nicht, ich zitiere, der schmählich degenerierten Kunst Terpsichorens etwas aufhelfen könnte: Der ist nicht zu helfen…jede Mühe wäre da vergebens.
Man ist versucht, sich als eine Ironie der Geschichte vorzustellen, dass Martin Schläpfer es sein wird, der sich in Wien nicht nur als der von Gustav Mahler vermisste Helfer entpuppt, sondern als ein schöpferisches Alter ego; dass es ihm gelingt, den Symphoniker und Ballettverächter Gustav Mahler dauerhaft auf jener Bühne anzusiedeln, der sich der Komponist verweigert hat.
Für Martin Schläpfer ist die Auseinandersetzung mit Gustav Mahler Programm, und das seit seinem ersten, schon in Bern so nüchtern als b.01 bezeichneten Ballettabend. Seine Rückert-Lieder muten an wie eine frühe Bezugnahme auf ein Schlüsselwerk der tänzerischen Moderne, Antony Tudors Dark Elegies, getanzte Kindertotenlieder, und sie führen uns damit an einen der beiden Pole, zwischen denen sich sein Schaffen verorten lässt. Tudor ist ein Meister des Sublimen, der Mischfarben, der Zwischentöne. Er spürt den Charakteren auch als Psychologe nach. Womit sein Dancemaking nie Selbstzweck bleibt, sondern Ausdruck menschlicher Beziehungen ist, und damit die Grundlage von Geschichten.
Martin Schläpfers zweiter – im Ganzen noch wichtigerer –Bezugspunkt heisst George Balanchine. Wie kein anderer Choreograph hat er die Entwicklungsgeschichte des neoklassischen Balletts nachhaltig geprägt. Balanchine und Tudor, in diesem Spannungsfeld hat Martin Schläpfer seine eigene Sprache und Ästhetik gefunden.
Achtzehn Jahre liegen zwischen den Rückert-Liedern und dem symphonisch-choreographischen Hauptwerk 7, Mahlers und Schläpfers Siebenter, an dem sich sein Weg und sein Ziel künstlerisch festmachen lässt. Wie bereits das zwei Jahre früher entstandene Brahms-Ballett Ein deutsches Requiem, ist 7 ein bedeutendes, jedes Herkommen fast sprengendes Werk, gekennzeichnet von einer Radikalität ohnegleichen. Es ist zugleich auch Zeugnis für die Länge des Wegs, den die Choreographie in ihrer Emanzipation von den anderen Künsten zurückgelegt hat.
Was Martin Schläpfer bestimmend prägt, ist sein Verhältnis zur Musik. Es ist ein tiefes, geordnetes, respektvolles Verhältnis. Martin Schläpfer benützt Musik nicht. Er achtet Formen und Strukturen: Ich suche nach Kompositionen, von denen ich nicht weiß, wie sie, ja ob sie überhaupt tänzerisch zu lösen sind. Es ist das scheinbar Unmögliche, das mich weitergehen lässt, als ich es mir vorstellen kann. Ich brauche die Gefahr, die Möglichkeit zu scheitern. Es ist die Herausforderung einer Musik, die mich zu meinen Balletten zwingt, und nicht eine vorgefasste Idee oder ein Thema.
Auch die Dramaturgie seiner Ballette, sagt Martin Schläpfer, entstehe aus der Musik. Um sogleich klarzustellen, dass er den Tanz auch dabei nicht als eine gehorsame Tochter der Musik versteht: Das heisst nicht, dass ich den Tanz der Musik unterordne, sondern ich stelle ihn daneben.
Was der Augenblick ist, auf eine Qualität hinzuweisen, die den Choreographen Martin Schläpfer hinaushebt über fast alle seine Zeitgenossen. Er bekennt sich bedingungslos zur Musik unserer Zeit. György Ligeti, dessen Ramifications wir gerade gesehen und gehört haben, findet sich in einem reichen Werkkatalog, der von Feldman und Schnittke, Lachenmann und Lutoslawski, Sciarrino und Scelsi bis zu Sofia Gubaidulina und Adriana Hölszky reicht.
Der Ansatz ist zwingend. Martin Schläpfers Radikalität treibt ihn freilich noch einen Schritt weiter, indem er den Anspruch setzt, und auch erfüllt, Choreographie und Komposition als gleichgewichtig und gleichgeordnet zu verstehen. Tänzerische Abläufe sind für ihn nur gelegentlich, nicht zwingend, interlineare Verdopplungen der Musik. Er postuliert die völlige Autonomie des Tanzes.
Martin Schläpfers tänzerisch-musikalische Kontrapunktik führt auch zu einem neuen Werkbegriff. Neben das musikalische Opus tritt ein neues, weiteres, alternatives Werk, das per se zu würdigen ist. Um diese schöpferische Leistung zu bewerten, erscheint es hilfreich, auch an die bildnerische Übermalung oder literarische Überschreibung zu denken.
Welche tänzerische Sprache ist sein Idiom? Als Choreograph ist und bleibt Martin Schläpfer verwurzelt im klassischen Akademismus. Er hat es jedoch verstanden, das althergebrachte, zu früh totgesagte Vokabular der Danse d’école, wie Dorion Weickman schreibt, als heutiges Phänomen zu begreifen, zu denken, zu profilieren. Das gilt selbst für den Spitzenschuh, der am Rhein so umwerfend eingesetzt wird wie nirgends sonst – Waffe, Werkzeug und Fetisch zugleich.
Mass und Leitbild für diesen Erneuerungsprozess ist Balanchine. Man denke an Ballette wie Ivesiana, Agon, Episodes oder Variations. Was immer im Modern Dance an Innovativem einherkam, an scheinbar Regelwidrigem, Querständigem, Sperrigem, erscheint bei Martin Schläpfer absorbiert zu einem Radical Classicism. Anne do Paço, seine enge Mitarbeiterin, hat diesen ästhetischen Ansatz genau beobachtet: Das dem klassischen Tanz entlehnte Material fällt aus seiner Harmonie in etwas hinein, das uns über die reine Form, Haltung und standardisierte Pose hinaus etwas erzählt, das aus dem Inneren kommt.
Was ist dieses Innere von Arbeiten, die Horst Koegler als handlungslose Handlungsballette bezeichnet hat? Martin Schläpfer erzählt uns, andeutend und assoziativ, nie handfest, Geschichten von Menschen und ihren Beziehungen, vom Glück und von den Bedrohungen unseres Seins, von Sehnsucht und Not, von Zweifeln und Hoffnungen. Es sind eher die Schattenseiten, wohin uns sein künstlerisches Werk führt.
Hin und wieder macht er, vergnügt und ganz unangestrengt, natürlich auch heitere Tänze. Pezzi. Divertimenti. Auch sie sind nicht frei von Trübsal und Schwermut, selbst in der Liebeserklärung an seine Heimat, den Appenzeller Tänzen. In seiner Ganzheit ist Martin Schläpfers Werk jedoch eine einzige Absage an alle tänzerischen Märchen- und Feenwelten, an Prinzen und Elfen, an alles Ätherische und Ephemere, und daran ändert auch sein geglücktes Unterfangen nichts, den Schwanensee einmal neu zu erzählen. Seine Welt ist unsere Welt, unser Heute. Im Zentrum steht der Mensch in seiner existenziellen Bedrängnis.
Wer sich näher auf ihn einlässt, erkennt die Unbeirrbarkeit und die Tiefe seiner Verwurzelung. Martin Schläpfer ist ein Mensch der Berge, ein Einzelgänger. Seine Freundschaften sind handverlesen. Aufs engste vertraut mit Tieren und Pflanzen, träumte er davon, Biobauer zu werden. Er ist zäh und hartnäckig. Das Neinsagen, sein Selbstschutz, liegt ihm so viel näher, dass er eingesteht, es post festum manchmal zu bereuen. Immer wieder staunenswert ist jedoch die immense Kraft, die er entwickelt, um sein künstlerisches Wollen um- und durchzusetzen. Wer mit ihm umgeht, sei gewarnt. Er hält zwar Katzen, aber sein Lieblingstier ist der Kaffernbüffel.
Dessen Kraft Martin Schläpfer brauchen wird, wenn er aufbricht nach Wien, um sich auch daran abzuarbeiten, was man dort, meist unreflektiert, als Tradition heiligspricht. Wer Martin Schläpfer kennt, weiss allerdings, dass es nur ein Begriff der Tradition sein kann, dem er sich verpflichtet fühlt, nämlich Gustav Mahlers Feuer bewahren, nicht Asche anbeten.
Von der frühen Krise, die ihn zum Choreographen reifen liess, war kurz die Rede. Die zweite Krise, eine Folge geistiger und körperlicher Erschöpfung, bewog Martin Schläpfer auch in seiner Lebensmitte zu einem zeitweiligen Rückzug. Er führte ihn, über Jahre hinweg, in die Einsamkeit der Berge. Was er dabei entdeckte, waren nicht die Entbehrungen und Härten, die er aus seiner Kindheit gut genug kennt. Es war anderes Neuland.
Er entdeckte das Schreiben als eine Form des Selbstgesprächs, des schöpferischen Denkens und der geistigen Erneuerung. Die Wirkung war phänomenal. Seine zutiefst persönlichen Alpfragmente, ungeschönte Protokolle der gnadenlosen Selbstbefragung eines Geschwächten und Verwundeten, gingen einher mit einem wahren Schaffensrausch, dem wir nicht nur Ein deutsches Requiem und 7 danken, sondern eine ganze Reihe von meisterlichen Balletten, bis hin zu seinem und Schostakowitschs erst vor wenigen Tagen uraufgeführtem Cellokonzert, dem schönen Abschiedsgeschenk an sein vierzigköpfiges Ensemble.
Martin Schläpfer hat die Latte hoch gelegt für jedes Weiter und Höher. Es kann sein, dass er sie fortan häufiger überspringen wird, auch müheloser. Was wir erhoffen, für ihn wie für uns. Gewissheiten kennt schöpferische Arbeit jedoch nicht. Sie ist Zweifel, nicht selten auch Verzweiflung. Zweifelsfrei ist, dass er allein, Martin Schläpfer, es sein wird, der den rigorosen Anspruch bestimmt, dem er in seiner Kreativität gewachsen sein und – bleiben will.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
© 2019 Gerhard Brunner
Sehr geehrter Gerhard Brunner, lieber Gerhard,
Ich danke Dir von Herzen für Deine Laudatio – Deine Worte, die mich tief berühren.
Dass Du diesen meinen Wunsch, für mich hier in St. Gallen zu reden, angenommen hast – ehrt mich, und ist für mich nicht selbstverständlich, da ich sehr wohl weiss, erstens – wie beschäftigt Du bist…und zweitens…dass Du für Dich immer sorgfältig auswählst, was Du zu tun gewillt bist – und was nicht! Wir kennen uns schon viele Jahre – begegneten uns zum ersten Mal in Berlin. Ich weiss es noch, als wär’s heute… – ich fühlte mich damals noch als ein kompletter Direktor-Niemand. Unser Gespräch ging um die mögliche zukünftige Ballettdirektion der Komischen Oper – wann auch immer wir uns danach sahen – war das Thema Tanz mit uns – mit dabei – Teil. Immer waren diese Begegnungen – vor allem seit ich Dich als Mensch besser kennen lernen durfte – Freude, Inspiration und Lernerfahrung gleichzeitig – stimulierend, lebendig machend! Du warst mir immer Freund, Ratgeber, – das bis heute –hast an mich und mein Tun geglaubt. Dafür grossen – tief empfundenen Dank!
Sehr geehrte Präsidentin Corinne Schatz, sehr geehrte Mitglieder des Stiftungsrat- Vorstands, – allen Ihnen, die sich entschieden haben, mir diese grosse Anerkennung zuzugestehen…sage ich ein von Herzen kommendes Dankeschön! –
Sehr geehrte Damen und Herren, Vertreter der Politik und der Medien, Liebe Freunde, Liebe Brüder und Liebe Familie, My Dear Dancers…und sicherlich die wunderbaren Musiker des Terzetts Hersche-Looser möchte ich hier explizit mit begrüssen…was grossartige Musik – was eine Metapher on top, – sie sind Toggenburger, – Kanton…./ – und doch mit die besten Zäuerli-Künstler, die es gibt… – und mögen meine appenzellische Seele, und die von uns allen, so fein zu berühren!
All die besonderen Menschen, die heute hierhergekommen sind, um mit mir zu feiern – nämlich sie alle heisse ich mehr als willkommen,…sogar ein „paar“ meiner Primarschulklasse – sind hier, was einfach nur super ist. Ich hatte Bedenken, ob ich Euch noch erkennen würde, aber es war alles – mehr oder weniger – zum Glück noch da.
Erlauben Sie mir bitte auch meine erste Ballettlehrerin Marianne Fuchs – und meinen ersten und wichtigsten Ballettdirektor und Choreographen – Heinz Spoerli – hier gesondert zu begrüssen, auch weil ich heute als Tanzkünstler hier oben stehen darf, und es ohne sie nie geworden wäre.
Besonderen Dank geht von mir aus an Esther Hungerbühler. Sie hat nicht nur alles, was wir heute hier erfahren und erleben – hervorragend organisiert – und möglich gemacht – sondern war einfach in allem top – in English you say – a true gem!
Es ist wahr,….ich kriege heute nicht zum ersten Mal einen Preis, – aber ich kriege mit dem großen St.Galler Kulturpreis eine Würdigung verliehen, die mich ganz besonders freut und erfüllt, – und damit meine ich keineswegs die generöse Dotation, die mit ihr einhergeht, sondern, – dass dieses Geschenk aus meiner Heimat kommt – dem St.Gallischen, – ich es hier entgegennehmen darf, – in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, und zugleich findet all das grad auch unter den Appenzellerhügeln statt. Das ist sehr schön, denn ungefähr hier fühle ich mich – nach wie vor – irgendwie – heimisch. Auch ist dieser renommierte Preis keine Spezialisten –Auszeichnung, sondern ehrt, seit jeher breit, gestreut – was mir sehr zusagt, denn nicht immer kann ich das In-Züchtige der Ballett- und Tanzwelt so gut nehmen, wie ich es vielleicht sollte.
Jetzt mit bald sechzig, würde ich für mich persönlich sagen, dass es so etwas wie ein Erkennen, – eine Definition von Heimat gibt. Vorsichtig – trotzdem! Ein Zuhause hat man. Zuhause kann man sogar mehrere haben. Es mag die Familie sein, die eigenen vier Wände, London oder Zürich, in einer Partnerschaft kann man auch „home“ sein, im Hobby. Manche Menschen behaupten allerdings – sie seien nirgends Zuhause. Ich glaube, dass das durchaus stimmen kann – ich zumindest – kann diese Aussage nachvollziehen – obwohl es häufig dann doch nur so ein dahingesagter Satz sein mag. Aber ich behaupte – eine Heimat hätten sie – irgendwo wären sie heimisch. So sie das verneinen, haben sie sie nur verloren…erinnern sich nicht mehr daran, was das war, wo sie liegt. Denn Heimat ist nicht das Zuhause. Es ist etwas offeneres, feineres…weiteres. Sie liegt wohl dort irgendwo, wo man jung war, Kind war, pubertierte…und man war all das – eben dort – in einer mehr oder weniger abgesteckten Umgebung. Es mag ein Geruch in der Luft sein, das Erkennen, dass nur gerade hier die Wiesen so satt grün und dicht mit gelbem Löwenzahn übersät sind…unten in Wil – oder schon nach Gossau – und oben in Trogen – sind sie schon wieder leicht anders… es mag das hell freundliche des zwischenmenschlichen Umgangs sein, einer der aber eigenartigerweise doch nie viel Persönliches preis gibt…die Art und Weise wie man sich zunickt, vielleicht? – Heimat setzt sich aus unzähligen Ingredienzen zusammen, ist primär durch die Sinne zu spüren…man erkennt, riecht, spürt, sieht, hört – Heimat, – aber man kann sie nicht gut denken. Sehr wahrscheinlich ist und bleibt es die Gegend, wo man die allermeisten Ersterfahrungen, Erstbegegnungen, Ersterlebnisse hatte…es ist der Ort, wo man zu leben begann, – begann, zum ersten Mal bewusst zu erleben…Heimat hat erstaunlicherweise recht wenig mit Menschen zu tun. Vielleicht kann ein gewisser Menschenschlag mit zu einem gewissen Heimatgefühl beitragen. Aber Menschen fühlt man sich grundsätzlich zugehörig – oder natürlich auch nicht.
Ich gehöre nicht hierher – weil ich St.Galler bin, denn was ist ein St.Galler? – oder ein Schweizer?…..Heimat ist nicht etwas so Klares, so Direktes…oder gar etwas Nationales…ist eher mystischer Natur – diffuser vielschichtiger; etwas Leises, das in Dich hineinkriecht, wenn Du in ihre Nähe kommst – zurück bist. Du bemerkst sie erst dann, wenn Du ihr nahe genug gekommen bist, sie nicht unbedingt suchst – zumindest nicht als klares Ziel –/…dann nimmt sie dich in ihre Hand, überrascht Dich – macht Dich lächeln. Du magst noch so international agieren – das ist ihr wurscht – und nicht zuletzt ist es die Wurst, sind es die Klöpfer, Bratwürste und Schüblige – die Dir auch zeigen, wo das Heimisch-Sein liegt. Dann kapierst Du, hier ist sie, die Gegend…das ungefähre Terrain, wo Du wieder im Buch der Jugend blättern kannst, als wäre es gestern gewesen. Wo Dich irgendetwas Lapidares daran erinnert – in Dein Hirn flüstert: «Hier bist Du – und Du bist das Hier!» Du bist zurück an dem Ort, wo Du anfingst etwas zu werden….
Wenn jemand hier zu leben beginnt, sich entscheidet zu bleiben – sein ganzes Leben lang hier wirkt und arbeitet … ist er oder sie – hier Zuhause. Dann nähern sich Zuhause und Heimat einander an, verbrüdern oder verschwistern sich, sind Amalgam – ein Stamm.
Das Sich Zurücksehnen, wo man ursprünglich mal heimisch gewesen war – und immer noch ist… so wie ich es zu beschreiben versucht habe, gilt vor allem für den, der schon lange weg ist…auch weg sein musste.
Nun: Ich danke mehr als herzlich, dass ich diese grosse Ehrung – umgeben, umrahmt, von «Heimatlichem» – Ihnen – Euch! – entgegennehmen darf, – und gerade das ist es, warum dieser Anlass so einmalig und wichtig für mich ist!
Danke.
Martin Schläpfer