St. Gallische Kulturstiftung

2015, Frühjahr

Madame Tricot
(Dominique Kähler Schweizer)

  • aus Wil
  • Förderpreis über Fr. 7500.– für die Region Fürstenland
  • Sparte: angewandte Kunst, Strickkunst

Urkunde

«Madame Tricot» schafft mit ihren Strickarbeiten Kunstwerke an der Schnittstelle von Kunst, Kunsthandwerk, Design und Kitsch. Mustervorlagen und Anleitungen interessieren sie nicht, im Fokus stehen viel mehr Fragen von Werden, Sein, Vergehen. Für ihre Lust an Fleisch und Moder, ihre Fähigkeit, die kulinarische Wirklichkeit in Wolle zu fassen, und für ihre gleichermassen traditionell wie innovativ genutzte Technik des Strickens bekommt sie einen Förderpreis der St.Gallischen Kulturstiftung.

 

Laudatio von Martin Klöti, Stiftungsrat und Vize-Präsident:

Bei den alten Griechen, in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr., gab es einmal einen Wettstreit in der Kunst. Plinius berichtet mit Wonne davon. Da ist auf der einen Seite Zeuxis, der Trauben so wirklichkeitsgetreu malt, dass Vögel herbeifliegen und an den Trauben zu picken versuchen. Damit imponiert er der Jury gehörig. Und da ist auf der anderen Seite Parrhasios. Das Gemälde, das er seinem Rivalen und dem Beurteilungsgremium vorführt, ist von einem Leinenvorhang verdeckt. Als Zeuxis den Vorhang beiseiteschieben will, um die Malerei siegessicher darunter besser betrachten und anschliessend seinen Triumph geniessen zu können, realisiert er erst, dass der Vorhang selber die Malerei ist. Zeuxis hat Vögel getäuscht, Parrhasios aber Menschen.

 

Was um Himmels willen hat nun Griechenland hier in Wil und in der St.Gallischen Kulturstiftung verloren? Die Stiftung hat zwar beschlossen, sich in ihrer Ausrichtung zu öffnen, aber grad so? Doch schauen Sie: Würste, Salami, Schinken, Mortadella. Gehacktes, Kutteln, Kalb. Ganze Schlachtplatten werden aufgetischt. Natürlich auch Geflügel. Und Fisch, Hummer, Gerippe. Von Torten und Törtchen ganz zu schweigen. Das Wasser läuft einem im Mund zusammen ob dieser barocken königlichen Üppigkeit. Bis man beim genaueren Hinschauen bemerkt: alles nicht wahr. Oder wahrer als die Natur. Und beim noch genaueren Hinschauen: Das Fleisch schimmelt. Die Wurstwaren sind Strickwaren, aus fein austarierten Farbmischungen und präzisen Formfindungen gebaut. Nichts, das Madame Tricot nicht zu stricken wüsste. Ganze Stillleben zaubert sie aus ihren Nadeln.

 

Und wie Zeuxis erst beim Tasten die Täuschung erfährt, so möchten wir auch die Würste berühren, das Fleisch greifen, begreifen, was da gerade mit unserer Wahrnehmung passiert. Die Schöpferin hängt sich gar gerne eine Wurstkette um den Hals; natürlich eine verschimmelte. Sie scheint solche Extravaganzen zu lieben. Die pensionierte Ärztin, Fachärztin in Psychiatrie, die neben ihrer Praxis auch die einzige Blutegel-Zucht in der Schweiz betreibt und die Sauger für medizinische Indikationen anbietet, hat eine wichtige Motivation für ihr Tun, Lebensmittel zu stricken: «Es macht mich glücklich», sagt sie kurz und bündig. Es sei für sie wie eine Meditation, eine Therapie. Hier treffen ihr angelernter Beruf und ihre Leidenschaft fürs Sticken zusammen. Zudem ist ihr klar, dass die Begeisterung, die ihre Objekte auslösen, und ihre eigene Begeisterung beim Machen zusammenhängen. Das sei das Geheimnis von Kunst, meint sie: Leidenschaft. Und als Künstlerin versteht sie sich unterdessen. Stricken habe sie schon als Kind geliebt – genauso wie Essen. Aufgewachsen ist Dominique Kähler alias Madame Tricot in Paris. Mit der Heirat ist die studierte Ärztin vor etwa 40 Jahren in die Schweiz gekommen und hat in Wil zusammen mit ihrem Mann eine medizinische Praxis betrieben. Seit der kürzlich erfolgten Pensionierung habe sie wieder mehr Zeit, geht sie nur noch an zwei Tagen in die Praxis, und so strickt sie, aus dem Kopf, lustvoll, immer und überall: beim Zugfahren, beim Grosskinderhüten oder während sie im Restaurant aufs Essen wartet. An Bekanntheit fehlt es der strickenden Dame nicht. Bei Kurt Äschbacher war sie 2013 zu Besuch, ihre Würste waren zeitgleich im Mühlerama Museum in Zürich zu entdecken. Letztes Jahr dann eroberte sie das Toggenburger Museum in Lichtensteig und produzierte – inspiriert von der innovativen Toggenburger Käsetradition – ein Käsesortiment der besonderen Art. Madame Tricot schwärmt vom Schimmel, vom Übergang zwischen Leben und Tod und dem Prozess der Verwesung, der alles andere als etwas Totes sei. Abgesehen von Schmeissfliegen auf Schimmelstrickwaren hält sich Madame Tricot aber an tote Materie. Sie sei nicht in der Lage, Leben zu stricken. Gott spielen ist nicht ihre Sache. Aber ganz tot seien weder ihre Objekte noch das Arbeitsmaterial, die Wolle. Auch Wolle kommt vom Tier, ist aber länger haltbar als Fleisch. Aus Wolle gemacht lebt das Fleisch länger. So sagt sie und lacht; sehr lebendig und lebhaft.

http://www.madametricot.ch