Lutz & Guggisberg mäandern seit einem Vierteljahrhundert als Künstlerkollektiv durch die hybride Palette der bildenden, visuellen, musikalischen, performativen und sprachlichen Künste. Auf Streifzügen sperbern sie Inhalte aus der grossen Welt und kleinen Gesellschaft, ameisen und werkeln sich durch inspirierende Materialien und kombinieren die Vielfalt der Welt wieder erkennbar anders mit neu beseelten Objekten, in raumgreifenden Installationen wie in öffentlichen Gärten. Als Meister des Absurden und der Kunst der Kombination eröffnen sie in scheinbarer Leichtigkeit philosophische Tiefgänge. Für das gemeinsame Gesamtwerk, das als eigener bildkünstlerischer Kosmos steht, aus Trouvaillen neue Universen schafft und mit konsequenter Ästhetik über alle Grenzen hinaus strahlt, zeichnet die St. Gallische Kulturstiftung Andres Lutz und Anders Guggisberg mit dem Kulturpreis aus.
«Wer sich einmal auf den Kosmos von Lutz & Guggisberg eingelassen hat, ist nachher ein anderer Mensch.», schreibt der Kunsthistoriker Simon Baur im Kritischen Lexikon der Gegenwartskunst. Aus meinem theatralischen Blickwinkel möchte ich diese Warnung frisieren und die Wirkungskraft ihrer Kunst als fortlaufende Bewegung behaupten: «Wer sich einmal auf den Kosmos von Lutz & Guggisberg eingelassen hat, bleibt für lange Zeit ein anderer Mensch»: Andauernd neugierig, verzaubert durch den materiellen Reichtum einer Installation, einem raffiniert beleuchteten Sampling aus Kleinplastiken, fasziniert von Parallelwelten, von käfernden Paraden, und staunt mit kindlicher Freude, wie aus dem Gipsbau die beseelten Wesen kriechen und strömen und in welche Welt oder Gefahr die Frischlinge hinausstapfen.
Und da man/frau keinen Büchsenöffner zum Wiedererkennen von Material oder einfachen Formen braucht, bleibt man zum längeren Verweilen eingeladen, und kann sich in der ungeheuren Vielfalt verirren, die dort aufprallt. Um die Welt in Vielfalt abzubilden, betonieren sie, wetterfest, töpfern, brennen, schnitzen, malen, sperbern, orten, bienen, sammeln, finden, arrangieren, rezykeln – auch eigene Arbeiten -, kombinieren, filmen, fotografieren, betiteln, texten, vertonen, performen, sampeln, faken, grümscheln, ameisen, maulwürfeln durch Fundgruben, katalysieren, sezieren, schichten, verdichten, ordnen neu, kombinieren … beflügeln. So oder anders entsteht raffinierte Kunst, die hineinsaugt, um einen irgendwann wieder auszuspucken, aber nie mehr ganz loszulassen. Falls Sie es wagen, sich auf den Kosmos von Lutz & Guggisberg einzulassen: Ziehen Sie gute Stiefel an, Taucherbrille und Schnorchel, nehmen Sie einen zünftigen Znüni auf den Weg, und lassen Sie kategorisierende Schubladen, erklärende Vergleiche, die akademische Brille oder anderen Notvorrat zuhause. Damit ist Einiges gepflückt. Kurz und gut. Der Kulturpreis ist parat. Wir könnten gleich zum Apéro gehen. Könnten.
Zuvor richte ich noch ein paar Gratulationen aus, und Grüsse: Aus aller Welt. Und aus Uznach, Biel, Peking, St.Gallen, von Ritter Unbert, Doktor Lüdi’s Mutter, Max und Moritz, vom Büro für Silberne Hochzeit, aus Altdorf, Winterthur – und zuerst aus Zürich: Von eben da gratuliert euch beiden, Andres und Anders, die Esther Epstein vom «Message Salon», «eine sehr verdienstvolle, quasi underground-Queen-mässige Kuratorin von Zürich» – im O’ton Lutz. Dort gabs 1996 eure erste Ausstellung «Living Room», zusammen mit dem Schriftsteller Peter Weber und dem Musiker Roland Widmer, sagt Lutz, und: «Guggi machte noch mehr Musik i säbere Zit und ich mehr Cabaret, und das war bedeutsam, weil wir nicht von Anfang an den Druck zum sofort totalen Erfolg hatten. Im gemeinsam betriebenen Atelier hats sukzessive begonnen, Fahrt aufnehmen. Wir haben fünf Jahre gearbeitet miteinander, bevor wir mal ein städtisches Stipendium gewinnen konnten, und dann ein Bundesstipendium, und dann bekamen wir den Manor Art Preis in St.Gallen, und dann konnten wir mit der ersten Galerie zusammenarbeiten: Beim Otto Friedrich in Basel. Und so hat sich die Zusammenarbeit langsam konsolidiert und es war nicht so, dass wir 1996 gesagt haben: Jetzt bleiben wir zusammen, bis dass der Tod uns scheidet: sondern by doing».
Biel gratuliert Anders Guggisberg: «Heimat mit Identität, Chutzpe und Flair. Weltklasse. Eine supercoole Stadt. Hat eine der besten Jugendpolitik überhaupt. Bist versorget als Junge in Biel. Mischung zwischen grössenwahnsinnig und komplex», sagt Anders. Biel verliess er 1988 für die Kunstgewerbeschule Zürich. Dort gab’s für Guggi ein Künstlerleben vor Lutz. Uznach gratuliert Andres Lutz, der erzählt: «Da bin ich aufgewachsen, da schau ich noch mit gewisser Wehmut beim Vorbeifahren zum St. Otmarsberg und dem herrlichen Ricken-Südfuss. Lass mich einmal im Jahr von der Grynau in die Bätzimatt abetriebe. Erinnerung an alte, schöne Zeiten, wo ich heute die felliniamarcordmässigen Eggli sehe, halb erschlagen von dieser verdammten galoppierenden Hässlichkeit, die entsetzlichen Häuser, die sich überall here chötzlet, quasi eine handelsübliche Erfahrung, die jemand macht, der ins Dorf hinausgeht, wo er aufgewachsen ist». Von diesem Uznach hat Lutz einen Kratten voll Geschichten. Der biedere Müll ist Nährboden für seinen Adlerblick. Uznach verliess der 18-jährige Andres für die Züglerei nach Zürich, ans Kunststudium aus barer Ratlosigkeit, bis er merkte, er wollte ja Künstler werden und nicht Kunsthistoriker. Wechsel an die F&F. Und bis 1996 fünf Jahre Bern: Dort gabs für Lutz ein Künstler-Leben vor Guggi. Lutz hat die Verbundenheit mit Uznach als Künstler gepflegt: Er schaffte für die Kunstausstellung 06 mit Kurator Glaus, trat auf in der Rotfarb mit den «Geholten Stühlen», darum heute explizit das Glückwunsch-Telegramm von Marteli Bernet. Und mit «Doktor Lüdi», der vergnüglichen Einmann-Show vom kurligen Kerli, der, pleite, wieder bei seiner Mutter wohnt. Auch in Lüdi‘s multimedialem Gartenprogramm wird Mutter Erde bespielt: «Die Zivilisationsschicht, die den mittelländischen Trog genüsslich auffüllt mit Getötzel, welches immer neu geordnet werden kann». Dieses Getötzel schlägt sich rundum nieder.
Folglich gratuliert Altdorf dem Künstlerduo: Im Kunstdepot Altdorf stellt euch die Sammler-Familie Hürlimann-Weber ein ganzes Stockwerk zur Verfügung: Die Werkgruppe VOLLE HELLE HALLE füllt eine raumgreifende Installationen mit 30 Objekten, Ensembles und Settings. Nach dem Umzug aus Göschenen habt ihr in Altdorf eure Werke neu arrangiert und in einer gültigen Form parkiert. Elemente, die zum Teil lange Geschichten, Reisen, Ausstellungsstationen, Lagerungen aufweisen, haben hier eine Bleibe. Grosse Schau. Grosses Werk! Vehikel, Chärre, Skulpturen – wie lebendige Wesen, die sich familienähnlich zu spezifischen Formationen und Paraden zusammenfinden. Materialcollagen, aus allerlei Fundstücken zusammengebaut. Absichtlich konstruierte Provisorien. Fragmente. «Vor sich hinlagernde Edelstücke wollten endlich einer Wiederverwendung zugeführt werden. Denn gebrauchtes Material hat – im Gegensatz zu neuem – schon eine Aura, eine Geschichte, die im guten Fall das Neue befruchtet, auflädt. Wir haben lauter Dinge von der Gewalt befreit, die der Kontext ihnen angetan hatte», sagt Andres.
Mit überbordender Sprach- und Einbildungskraft betitelt, betextet und benamst ihr die Werke: Die Sprache schafft eine zusätzliche Bedeutungsebene zur bildkünstlerischen. Sie steht auch für sich selbst. Ihr beschreibt Kultstücke – wie die Muldengruppe: «Für uns als Wiederverwender, Neuarrangierer, Umfunktionierer waren Mulden immer schon Hotspots der spätkapitalistischen, hyperwohlständigen Gesellschaft, da gab es nichts Lustvolleres, als die grosse Mulde mit Dingen zu füllen, die ebenso Kunst sind wie Abfall». Im Hühner-Eier-Skulpturen-Party-Käfig überall diese eierartigen Hupfe, rundgeschliffenen Ziersteine, Käfer, die nur sich selbst bedeuten: «Wie viele haben wir schon in die Welt entlassen!». Die Verwandtschaft von tierischer und menschlicher Aktivität begeistert euch. Auch in der Altdorfer Käferparade: «Zuhinterst der Kubenscheisser, zuvorderst der geflügelte Clownkäfer mit Schmerzgeweih, ein Beispiel unserer Lust daran, den Schöpfungsbericht nachzustammeln und den 300 Millionen Insektenarten noch sechs weitere hinzuzufügen. Beachten Sie im Ei die im Finstern gefilmte nächtliche Parade: Da waren sie noch in ihrem Bau!» Viele Sachen filigran, in Vitrinen für Feines. Erzählerisch alles. Die visuelle Kunst ein Bühnenspiel: Es läuft, kriecht und steht in Beziehung zueinander.
Die Kunst der Kombination ist eine der Kernkompetenzen, durch die Ihr rund um den Erdball Resonanz, Ruf und Renommee bekommt. Auch Peking verneigt sich höflich für das installierte Werk «Fleiss und Industrie» und gratuliert heute pünktlich mit: «Junge, kommt bald wieder!» Das Kunst Museum Winterthur gratuliert: Dort nisteten sich Lutz & Guggisberg mitten in der Sammlung ein: Sie schickten 30 Skulpturen an den Start und stellten sie den alten Meistern vor die Nase, wo sie eine temporäre Aufenthaltsbewilligung erhielten, zwischen Impressionisten und Kubisten und dem ganzen Modernisten-Kanon bis hin zu Hans Arp und Meret Oppenheim und Paul Klee. Freche Frische. Der Ausstellungstitel «Ofen, Geist & Meister» war schon etwas hinterhältig: Sind die Museumsräume wirklich eine behagliche Stube mit einem Ofen? Welcher Geist weht da? Und wer sind die Meister, und für wen?
Varietät ist Konzept, Literatur gehört zum Repertoire: Darum überbringe ich aus der «imaginären Bibliothek» die Gratulation von Ritter Unbert: «Der früh aufgeschossene, baumstarke Brädi, der herrliche Stecken von einzigartig gradem Wuchs, macht im ersten Unbert-Roman seinem späteren Namen Schrecken von Lothringen alle Ehre, wie er, noch als Knappe, seinen Widersacher Schmutzbert mit seiner hölzernen Übungsstreitaxt niederstreckt und dafür vom Oberritter Meisterbert den Ritterschlag erhält». Aus Band 1 der Serie «Unbert-Romane», Schundromane aus dem Mittelalter: Diese «imaginäre Bibliothek» ist 20 Jahre lang gewachsen, ursprünglich als Nebenprodukt einer Arbeit. Der Zufall übernimmt eine initiale Rolle. Danach geht es darum, ihn zu moderieren, mit der Gabe, unerwartete Entdeckungen zu machen: Vor 20 Jahren diente ein Buch als Requisit für ein Foto. Lutz & Guggisberg verklebten ein Stück Holz mit einem selbst gestalteten Buchumschlag. Daraus entwickelte sich ein Eigenleben: 500 Bücher folgten, alle mit Körpern aus Holz: Auf dem Cover die Fälschungen, an bekannte Literatur angelehnt und wiedererkennbar. Verrückte Titel und rückseitige Klappentexte, die neugierig machen zum reinlesen. Aber man kann sie nicht öffnen. Falls Sie das versuchen, haben Sie ein Brett vor dem Kopf!
Diese 500 laufend ausgestellten Holz-Bücher mit Gebrauchsspuren sind nun im Über-Buch «Vergleichende Komparatistik» gedruckt und versammelt. Neu, noch sehr heiss, in diesem Frühling eröffnet. «Ein Stöberbuch», sagt Andres Lutz. «Ein Nachschlagewerk», ergänzt Anders Guggisberg. Ein Denkmal! Eine kondensierte Sache, was die 20-jährige Schwangerschaft dieser Publikation betrifft: Viele eigene Kunstwerke sind da drin verbuttert. Eine einmalige Enzyklopädie. Der Buch-Titel «Vergleichende Komparatistik» führt die Vergleichs-Ironie als weisser Schimmel ad absurdum. Im künstlerisch produktiven Paarlauf von Lutz & Guggisberg steht die Formation in einer Tradition: Das Duo ist Popkultur, man ist eine Band. In der 25-jährigen Zusammenarbeit haben sie ein gemeinsames Vokabular entwickelt. Man spiegelt sich im Anderen, der ähnlich tickt, getacktet ist. Der Macher ist nicht mehr im Zentrum, weil es zwei Macher sind. Das rückt die Sache in die Mitte: zwei-stimmig, doppel-züngig. Darum heute das Glückwunsch-Telegramm vom Büro für Silberne Hochzeit: Für Andres und Anders.
Dazu das Grusswort von «Max und Moritz»: Auf schelmische Art hinterfragen auch Lutz & Guggisberg immer wieder bürgerliche Wertesysteme. Wühlen auf vergnügliche Art in unseren gewohnten Hierarchien und Kategorien und Ordnungen. Egal, welche Ordnung die richtige ist. «Sie schieben an, was einer Gesellschaft zum Funktionieren nicht fehlen darf: Den anarchischen Drang zur Freiheit. Die Werke von Lutz & Guggisberg spinnen ein feines Geflecht von Verweisen, von Ab- und Ausschweifungen, Reflexionen, sowie lustvoll subversiven Irreführungen. Alles ist austariert, sorgfältig abgestimmt und freigeistig spielerisch zu immenser Fülle getrieben», schreibt Andres Baur. «Solche Siebesieche machen die Welt überhaupt erst sichtbar. Es ist der zentrale Moment in der Kunst, wenn geistgesteuerte spielfreudige Hände der Materie Leben, Kraft und Wirkungsmacht einhauchen». Wir sind zum Verweilen eingeladen: Wer sich einmal auf den Kosmos von Lutz & Guggisberg eingelassen hat, bleibt für lange Zeit ein anderer Mensch. Conclusio: Die St.Gallische Kulturstiftung gratuliert Andres Lutz und Anders Guggisberg mit dem Kulturpreis 2021!
Das letzte Wort hat die Schluss-Musik. Das zweitletzte Wort ist ein Amusebouche zum Apéro nach der Musik. Empfohlen von Lutz & Guggisberg im Werk «Kochen mit Abfall mit Alice Vollenweider vom Biogemüs-Verlag: So schenkt sie unseren jählings reanimierten Geschmacksnerven-Zapfen zum Auftakte einen gebeizten Halbaff in der Bräute, frittierte Senkrechtstarterli im Chörbli, einen gedungenen Breitbandwurm-nudeldung im Kaffeesatz, dazu Stirnlachs, Schulterlachs oder Armlachs, sowie eine Schinkensuppe Arlesheim an der Albertschweizi, Blutwursttriebwerke mit Hinunterspeise, Gnubuletten, und zur Nachmast glasierte Horngummistreusel in der Zuckerplauschkrem Elvis, dazu ein Gläschen Aceton».
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