St. Gallische Kulturstiftung

2014, Herbst

Joachim Rittmeyer

  • aus Basel
  • Kunstpreis über Fr. 20000.– für die Region St.Gallen
  • Sparte: Kabarettist

Urkunde

Joachim Rittmeyer erhält den Kulturpreis der St.Gallischen Kulturstiftung für sein gesamtes künstlerisches Schaffen, vor allem als Kabarettist, aber auch als Autor, Schauspieler und Regisseur. Seit 40 Jahren zeigt Joachim Rittmeyer Kabarett-Soloprogramme. Dank seiner ausserordentlichen Beobachtungsgabe gelingt es ihm, alltägliche Menschentypen aufs Beste zu karikieren. Gewisse Figuren tauchen in den Programmen immer wieder auf und haben mittlerweile Kultstatus erreicht.

Joachim Rittmeyer ist ein Meister in der Darstellung des Skurrilen. Seine hervorragenden schauspielerischen Fähigkeiten erlauben es ihm, dem Gewöhnlichen und Unspektakulären eine witzige, bisweilen aber auch gesellschaftskritische und bissige Note zu verleihen.

 

Laudatio von Peter Stamm, Schriftsteller

Wer einen Preis gewinnt freut sich. Er lacht, reisst die Arme hoch, ballt eine Faust oder macht ein Victory-Zeichen. Je nach Alter und Geschlecht können diese Gesten mit wildem Gehüpfe oder mit Tränen ergänzt werden. Das lernen schon die kleinen Kinder in der Schule der Nation, dem Fernsehen.

Wer einen Preis gewinnt freut sich, er schämt sich. Er fürchtet sich vor dem Neid der anderen, hadert damit, ein Ziel erreicht zu haben und ein neues suchen zu müssen. Er hat Selbstzweifel, ist peinlich berührt davon, als Preisträger in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren. Er rechnet nach, was er mit dem Preisgeld anstellen könnte, sorgt sich über die Steuerprogression. Er zerbricht sich den Kopf darüber, wen er um eine Laudatio bitten könnte. Er empfindet ein unerklärliches Gefühl der Vergeblichkeit. Das lernen wir nicht im Fernsehen, das erfahren wir, wenn es uns zustösst.

Ich weiss nicht, was im Kopf von Joachim Rittmeyer vorging, als er erfuhr, dass er den St.Galler Kulturpreis bekommen würde, aber ich bin sicher, dass er keine Luftsprünge machte, sondern vieles gleichzeitig empfand, so wie wir immer vieles gleichzeitig empfinden. Würden wir ihn fragen, würde er es uns vielleicht vorspielen, so wie er es auch in Gesprächen gerne tut, wenn er plötzlich in eine seiner vielen Rollen verfällt.

 

Joachim Rittmeyer ist der Meister der Ambivalenz. Er arbeitet im Mikrobereich, seziert und analysiert unsere Gefühle und spiegelt sie uns auf der Bühne zurück. Und dann sind wir im Theater und hören einem Vater zu, der im Café sitzt und seinem Kind auf dem Spielplatz zuruft: «Det chunsch nöd ufe.» Oder Brauchle, der sagt: «Mängmol chunt eifach alles zame.» Oder Metzler, der sagt «Und dänn natürlich landschaftlich …» Und empfinden dabei ein Gemisch von Gefühlen, das ebenso komplex ist wie jenes, das Joachim Rittmeyer uns vorspielt.

 

Die St.Galler sind keine Meister der Selbstdarstellung. Ich habe mein Leben lang hart an der Grenze zu St.Gallen gewohnt und viel Zeit in der Olma-Stadt verbracht, aber ich weiss von den unbekannten Nachbarn nicht viel mehr, als dass sie ihre Bratwurst ohne Senf essen. Die Verweigerung des scharfen Gewürzes ist der St.Galler Antiklimax, den ich auch im Werk von Roman Signer so sehr schätze. Erst knallt es, ein wenig Wasser läuft aus einem Fass, dann ist der Spuk vorbei. Das Publikum steht noch eine Weile herum, schliesslich geht es nach Hause und fragt sich, was es da eben gesehen hat. Auch Joachim Rittmeyer ist ein Meister des Antiklimax, einer der seine Bratwurst ohne Senf serviert. Allenfalls ein Senfkorn wolle er sein, schrieb er 2010 in einem Text über seine Figur Theo Metzler: «ein Senf- oder Sandkorn im Getriebe des Menschenlebens, das dazu neigt, die Reibungslosigkeit über alles zu stellen.» So sind seine Programme alles andere als dramatisch. Schon die Titel verraten es: «Stören – Friede», «Der Untertainer», «Verdrängt und zugenäht» oder «Abendfrieden Spezial». Über einen von Joachim Rittmeyers ersten Soloabenden schrieb die Neue Zürcher Zeitung 1985: «Auf weiten Strecken wird die Pointenlosigkeit auf die Spitze getrieben.» Und 1989 hiess es in derselben Zeitung: «auf Tempo und Spannung wartete man vergeblich.» Was damals als Kritik gemeint war, ist recht eigentlich das Markenzeichen von Joachim Rittmeyer, an das sich Kritiker und Publikum erst gewöhnen mussten. Er ist kein Karikaturist, der seinen Gegenstand überzeichnet, kein Satiriker, der ihn seziert, kein Komiker auf der Suche nach Pointen.

 

Joachim Rittmeyer macht es uns nicht leicht, indem er sich weigert, unsere Erwartungen zu erfüllen. «Abrundungsmanie» nannte er einmal dieses «Bedürfnis, jedes Geschehen dieser Welt abzurunden», das «den Blick auf die wahre Welt» verhindere. Den Blick auf unser eigenes Leben, in dem auch wir oft vergeblich auf Tempo und Spannung warten. Aber nicht nur das abgerundete, das erlösende Ende fehlt in Joachim Rittmeyer Programmen. Oft verweigert er uns schon den Anfang. So wimmelt es in seinen Programmen von Abwesenden, von zu spät oder gar nicht gekommenen. In «Abendfrieden Spezial» (1989) fällt die Rede des Bundesrats zur Lage der Nation aus und der Heimleiter muss für die abwesende Regierung einspringen, «Streng öffentlich» (1976) beginnt eineinhalb Stunden vor einer Live-Sendung und endet, bevor diese anfängt, in «Der Untertainer» ist der Kabarettist verstorben und nur noch als Aufnahme zu hören, und auch «Die Lesung» (1996) findet nie statt. In «Verlustig» verschwindet Hanspeter Brauchle. In «Lockstoff» (2011) wird der Beginn der Veranstaltung verzögert, weil sich ein unbekanntes Tier im Saal befindet und im neuesten Programm «Zwischensaft» (2013) schliesslich möchte Theo Metzler sein Amt als Vorsitzender des «Interessenkreises für Sondierbohrungen im Alltag» abgeben.

 

Ein zweiter roter Faden im Werk Joachim Rittmeyers sind Lektionen, Instruktionen, Übungen. Es wäre zu kurz gegriffen, dies mit seinem gelernten Beruf des Lehrers erklären zu wollen, obwohl er diesen durchaus gerne ausgeübt habe, wie er versichert. In der sehr kurzen Zeit, die er als Lehrer gearbeitet habe, habe er «beglückende Momente» erlebt in denen er «die Schulstube als eine Art Brennglas der Welt empfand». Aber er habe die Schule schon damals nur als eine Art Zwischenlandung empfunden auf dem Weg zum grösseren Freiraum der Bühne. So gesehen nahm die Entlassung des Dienstverweigerer aus dem Schuldienst vielleicht nur eine Entscheidung vorweg, die er früher oder später ohnehin gefällt hätte. Die Lektionen, die Joachim Rittmeyer uns heute erteilt, fänden nicht einmal im ausufernden harmonisierten Lehrplan 21 ihren Platz. Dabei geht es durchaus um Kompetenzen, wie das heute so schön heisst. Schon sein zweites Programm «Stören – Friede» beginnt als lockerer Kurs, der uns helfen soll, «das Leben in Zukunft besser zu kontrollieren, besser in den Griff zu bekommen.» Wir sollen «die Technik der optimalen Lebensbeherrschung» lernen. Ein andermal geht es darum, Flugpassagiere nach den Ferien wieder auf eine veränderte Heimat einzustimmen oder die Insassen eines Altersheims auf den bevorstehenden Besuchstag. Joachim Rittmeyer spielt einen Fahrprüfungsexperten, einen Psychiater, einen Verkehrsplaner, einen Ausbildner für Manager, er erteilt Lektionen über das Befüllen von Geschirrspülmaschinen oder Rucksäcken. Ein Programm hiess schlicht «Orientierungsabend».

 

Man könnte meinen Joachim Rittmeyer sei ein unpolitischer Kabarettist. Stellungnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen kommen in seinen Soloabenden nur sehr selten und je länger desto weniger vor. Schon nach der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle im November 1986 schrieb er in einem Sammelband: «Es wäre absolut lächerlich, diese Katastrophe nun möglichst böse und aggressiv in einem Text oder Lied abzuhandeln, auf Sündenböcke zu zeigen und dann noch zu glauben, damit sei die Sache erledigt.» Viel eher liegt ihm die Rolle als Seismograph, der das Unglück ahnt, bevor es eingetreten ist. Dieses Ahnen schliesst die Beschäftigung mit dem konkreten Ereignis aus, aber es ist nicht weniger politisch, es ist im Gegenteil viel fundamentaler als das wohlfeile Ironisieren und Moralisieren, das einen so grossen Teil des politischen Kabaretts ausmacht. Es geht Joachim Rittmeyer um das Grundsätzliche, das Unbehagen des modernen Menschen in der Zivilisation, die Vereinsamung, die Instrumentalisierung von Menschen, die Verdrängung von Randgruppen und immer wieder um die missglückende Kommunikation, die Wurzel von so vielen Problemen. Die Schweizer sind Weltmeister der Nichtkommunikation beziehungsweise der nichtssagenden Kommunikation, der Kunst zu reden, ohne etwas zu sagen. Schon 1976, in seinem zweiten Programm, hat Joachim Rittmeyer den Begriff der «Primsätze» oder auch «Stoppsätze» geprägt und sie lassen ihn bis heute nicht los. Es sind Sätze, «die sich durch nichts, als durch sich selbst teilen lassen. Ohne Rest.» Ein Meister dieser Primsätze ist Hanspeter Brauchle. In einem kurzen Auftritt bei Giacobbo/Müller brachte er in einer einzigen Minute gleich acht solcher Sätze unter:

 

Mängmol chunt halt alles zäme.
– Ich chönnt jetzt einiges verzelle.
– Nächscht Wuche bessereds dänn wieder.
– Ich weiss, wies isch.
– Dä Mäntig isch sowieso am schlimmschte.
– Morn isch dänn scho besser.
– Mängmol muesch eifach dur so Sache dure.
– Gross erwarte tuen ich jo nüt.

 

Diese Füllsätze verhindern Kommunikation indem sie sie vortäuschen. In einer hochfragilen Gesellschaft wie der Schweizerischen sind sie unverzichtbar. Beim Liftfahren beispielsweise oder wenn man einen Angehörigen zum Zug bringt und dieser mit einigen Minuten Verspätung abfährt.

– Jetzt häts glich no uftoo.
– Seisch än Gruess allne.
– Die Verspötig holt er sicher wieder ine.

 

Ein drittes, immer wiederkehrendes Element von Joachim Rittmeyers Bühnenprogrammen ist die Musik. Cello und Klavier, die zwei Instrumente, die er schon als Kind erlernte, waren beide als Begleitinstrumente für seine Bühnenprogramme nicht geeignet. Das Cello, meint er, sei schon von Franz Hohler besetzt gewesen. Das Klavier, darf man vermuten, war zu schwer, um ihn auf seinen Tourneen zu begleiten. Also entschied er sich für das Vibraphon, das er mit achtzehn Jahren in einem Konzert von Bobby Hutcherson kennenlernte, einem der Wegbereiter des modernen Vibraphon-Spiels im Jazz. Er beschaffte sich ein Instrument und lernte es weitgehen autodidaktisch zu spielen. Auf einer 1987 erschienen Schallplatte seiner Lieder mit dem schönen Titel «Mein Vibe und Gesang», nennt Joachim Rittmeyer das Vibraphon den «weiblichen Aspekt» seiner Programme: unaufdringlich-eindringlich, verführerisch, rätselhaft, eher leise. «Plakative Aussagen passen schlecht in die Sphäre des Schwebenden», schreibt er auf der Plattenhülle. «So ist denn diese Zusammenstellung eher etwas für die Liebhaber des «vegetarischen Kabaretts.» Solche persönlichen Randbemerkungen sind bei Joachim Rittmeyer eine Seltenheit. Das Hintergrundbild seiner Homepage ist ein liebevoll gezeichneter Arbeitsraum samt Vogelkäfig und Fernseher, aber unter Leben/Werk findet sich eine Biographie, die kürzer nicht sein könnte. Die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens (darunter die neunzehn St.Galler Jahre) finden auf gerade mal zwei Zeilen Platz:

Geb. 16. Mai 1951 in St.Gallen, Kindheit und Jugend in St.Gallen, Primarlehrerpatent, kurze Tätigkeit als Lehrer, zwei Jahre Journalismus.

Unter «Blick voraus» findet sich auf der Homepage – dies nur nebenbei – ein Hinweis auf die Preisverleihung. Allerdings nicht auf jene, die wir heute Abend begehen, sondern auf ein Stück gleichen Namens, das 2009 im Casino Theater Winterthur aufgeführt wurde. Soviel zur Aktualität des Internets. Nun, Joachim Rittmeyer hat zweifellos eine Biografie, so wie wir alle eine Biografie haben. Aber was sagt es über ihn aus, dass seine Mutter Pianistin und Klavierlehrerin war, dass sein Vater starb, als er drei war, dass er das jüngste von sechs Kindern war? Auf die Frage eines Interviewers, wie er die sieben Monate als Dienstverweigerer im Gefängnis Saxerriet verbracht habe, antwortete er mit einem Wort: Schwer.

 

Der deutsche Komiker Hape Kerkeling hat eben seine Autobiografie veröffentlicht, und meint in Interviews, vermutlich sei er Komiker geworden, weil seine Mutter sich das Leben genommen habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Joachim Rittmeyer uns nie mit solchen Selbsterklärungsversuchen behelligen wird. In ihrem schönen Buch über die Schweizer Kabarettszene schreibt Daniele Muscionico, Joachim Rittmeyes Biografie müsste den Titel «Joachim Rittmeyer gibt es nicht» tragen. Er zeichne sich aus durch «eine jahrelange, planvolle Verweigerung, Antworten zu liefern, wo Fragen doch das Interessantere sind.» Ein schönes Beispiel dieser Verweigerung ist ein «Indiskretes Interview», das vor sechzehn Jahren in der Schweizer Illustrierte erschien, und in dem es nur diskrete Antworten gibt:

„Mit welcher berühmten Frau oder mit welchem berühmten Mann möchten Sie einmal eine Nacht verbringen?“
Mit einer Frau, die genauso wenig wie ich auf diese Frage eingehen würde.
„Haben Sie einen Aids-Test gemacht?“
So etwas fragt man höchstens beim letzten Tanz.
„Hat der Begriff Sünde für Sie eine Bedeutung?“
Nicht im Rahmen dieses Interviews.
„Woran glauben Sie?“
An Geheimnisse.

 

Aber die «planvolle Verweigerung» hat nichts mit Verschlossenheit zu tun, viel eher mit Bescheidenheit. Die Eitelkeit, die den Umgang mit Bühnenmenschen oft schwierig macht, scheint Joachim Rittmeyer völlig abzugehen. Statt über sich selbst redet er lieber über seine Projekte. Dazu passt, dass er kein anständiges Archiv seiner vergangenen Programme besitzt. Er interessiert sich nicht für Geschichtsschreibung. «Irgendwie war ich immer so auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges fixiert», schrieb er mir in einer Mail, «dass ich das Dokumentieren und Archivieren vernachlässigte. Kommt dazu, dass mich die Endgültigkeit von «geronnenen» Produkten immer etwas befremdete.» Joachim Rittmeyer ist peinlich darauf bedacht, auch seinen Figuren keine Biographie anzuhängen, ihnen ihr Geheimnis zu lassen. Hanspeter Brauchle gönnt er gerademal einen Göttibub, aber auch nur, damit dieser ihm zu Weihnachten einen selbstgebastelten Trennstab schenken kann. Seine Herkunft, seinen familiärer Hintergrund, seinen Beruf erfahren wir nie. Vielleicht kennen wir ihn gerade deshalb so gut. Jeder kann sich seinen eigenen Brauchle vorstellen. Meiner kommt aus dem Toggenburg, vielleicht, weil ich selbst zu einem Viertel Toggenburger bin. Als ich Joachim Rittmeyer darauf anspreche, ist er höchst erstaunt. Immerhin hat ihn selbst einmal ein Kritiker mit dem Toggenburg verglichen: «Sehr speziell und viel zu wenig geschätzt.»

 

Meine eigene Geschichte mit Joachim – für einmal will ich ihn beim Vornamen nennen – begann vor ungefähr zwanzig Jahren. Wir begegneten uns im Dunstkreis des Nebelspalters. Erst ging es um eine Initiative für einen Hofnarren im Bundeshaus, eine Rolle, die zu besetzen er – wie er damals schrieb – sich durchaus vorstellen könnte. Unser nächstes gemeinsames Projekt war eine Fernsehsendung, die wir zusammen mit Iwan Raschle entwickelten, den «Roten Bock», angelehnt an den «Blauen Bock», die legendäre Unterhaltungssendung des hessischen Rundfunks mit Hans Schenk. Die Idee war ganz simpel. Joachim sollte den schmierigen Moderator einer Satiresendung spielen, aber der wahre Ort der Handlung sollte der Regieraum sein, der Backstage-Bereich. Wir führten lange Diskussionen und immer ging es um Formen, nicht um Inhalte. Wir waren überzeugt, dass es nicht genügte, das Publikum mit Pointen zu füttern sondern es zu verunsichern, eine Methode, die Joachim in all seinen Programmen zur Perfektion getrieben hat. Kurz vor der Jahrtausendwende arbeiteten wir dann zum ersten Mal wirklich eng zusammen. Joachim organisierte das vom Migros Kulturprozent finanzierte Projekt «Gegenschirm» und ich war als einer von knapp zwanzig Darstellern dabei, obwohl mir jedes schauspielerische Talent abgeht. Die Idee von «Gegenschirm» war, wie es in der Projektbeschreibung heisst: «unserer ausgeklügelten Alltagsmaschinerie einfach einmal ein Schnippchen (zu) schlagen, ihr zeigen, dass all ihre Rädchen durchaus ein Zäckchen mehr haben als nötig wäre, um zu funktionieren.» Das Mittel waren kurze Szenen, die im Alltag gespielt wurden, ohne Ankündigung und ohne Auflösung. Die Zuschauer erfuhren nie, dass sie einer Inszenierung beigewohnt hatten. So konnte es einem in den ersten Monaten des neuen Jahrtausends passieren, dass man einer Touristengruppe begegnete, die von ihrem Führer haarsträubend falsche Informationen über die Sehenswürdigkeiten der Stadt bekam. Oder man konnte beobachten, wie kurz hintereinander zwei Trampassagieren Milch aus der Einkaufstasche rann. Oder wie jemand in der Post Kleingeld fallen liess und sich ein anderer auf eine der Münzen stellte und sich standhaft weigerte, seinen Fuss zu heben. Auf einer Homepage, die noch heute im Netz zu finden ist, wurden alle Bewohner der Schweiz aufgefordert, sich selbst solche Aktionen auszudenken und durchzuführen.

 

Der Meister solcher subversiven Interventionen ist Theo Metzler. In einem Text für eine Aufsatzsammlung über das gesellschaftliche Engagement in der zweiten Lebenshälfte wünschte sich Joachim Rittmeyer vor vier Jahren seinen Lebensabend wie Metzler zu verbringen, der vor Supermärkten angeleinte Hunde befreit, «damit sie ihre Treueentscheidung gegenüber dem Menschen nochmals in Freiheit überdenken können», auf Plakaten Werbebotschaften mit Filzstift verändert und ergänzt, in der Post Wartenummern pflückt, um sie Kunden seiner Sympathie zu schenken. «Aber was heisst schon Lebensabend», endet der Text, «ich bin noch keine 60 im Fall!» Inzwischen ist Joachim Rittmeyer sechzig geworden, sogar ein bisschen älter. Aber es bleibt zu hoffen, dass der St.Galler Kulturpreis ihn dazu ermuntern mag, seinen Lebensabend noch etwas hinauszuschieben und noch lange die Bühnen landauf und landab zu bespielen. Wir brauchen ihn und seine Lektionen in der Kunst der Lebensbeherrschung, in der Kunst, uns nicht vom Leben beherrschen zu lassen.

 

Liebe St.Gallerinnen und St.Galler, ich beglückwünsche Sie zu ihrem Kulturpreisträger.
Lieber Joachim, ich gratuliere dir zum Preis.

http://www.joachimrittmeyer.ch