Die St.Gallische Kulturstiftung verleiht den Jahrespreis 2002 in der Sparte Literatur dem Autor Gerold Späth. Sie würdigt damit sein immenses literarisches Schaffen, das geprägt ist von einem beeindruckenden sprachlichen Reichtum, mit welchem er es immer wieder versteht, ganz alltägliche Figuren eintauchen zu lassen in die unendliche Welt der Fantasie. Mit seiner Fabulierlust sprengt er mancherlei Grenzen des Formalen und des Inhalts und vermag damit die Leserschaft in seinen Bann zu ziehen. Er verwendet dabei alle Register, vom Komischen und Humorvollen bis hin zum Tragischen.
Geschätzte Damen und Herren,
Die St. Gallische Kulturstiftung verleiht heute ihren Spartenpreis für Literatur dem Schriftsteller Gerold Späth für sein gesamtes literarisches Schaffen. Wie Sie wissen, müssen die Preisträgerinnen und Preisträger irgendeinen Bezug zum Kanton St. Gallen haben, damit sie mit unseren Preisen ausgezeichnet werden können. Dies ist bei Gerold Späth gegeben, auch wenn er heute nicht mehr in unserem Kanton wohnhaft ist, sondern praktisch nur noch in Irland und Italien lebt, denn er ist als Sohn einer renommierten Orgelbauerfamilie nach seiner Geburt im Jahre 1939 in Rapperswil, dem mittelalterlichen Städtchen am Zürichsee, aufgewachsen und wirkte von dort aus seit 1968 als freier Schriftsteller. Rapperswil – zweifelsohne hatte und hat Gerold Späth ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Stadt, die er heute – so scheint es einem – meidet wie der Teufel das Weihwasser. Viele seiner Werke – „Unschlecht“, „Stimmgänge“, „Barbarswila“ zum Beispiel – sind untrennbar mit dem Städtchen verbunden, ja die Handlung spielt sich ja teilweise darin ab. Viele Passagen in Späths Werken führten zu einem Wirbel, gewisse Bewohnerinnen und Bewohner Rapperswils sahen sich in den Figuren dargestellt, fühlten sich dadurch geehrt oder eben auch diskreditiert.
Rappperswil – nur noch ein Wort dazu, dann verlassen wir dieses Kapitel! – bedeutete für Gerold Späth Heimat. Er setzte sich mit ihr nicht nur verklausuliert in einigen seiner Werke, sondern auch in unzähligen Stellungnahmen zur Realpolitik auseinander. Er machte sich damit nicht beliebt, doch das war nie und nimmer sein Ziel. Er nahm kein Blatt vor den Mund, kritisierte die seiner Meinung nach engstirnigen Behörden, die Rapperswil verschandeln und die Probleme, die die Lebensqualität beeinträchtigen, nicht grundlegend angehen. Ein Dorn im Auge war ihm zum Beispiel immer der Seedamm, der sicher auch daran schuld ist, dass sich heute tagtäglich über 25’000 Autos durch das enge Rapperswil drängen. „Sprengt den Seedamm!“ war Gerold Späths radikales Rezept dagegen; ich kann mich gut an eine Protestaktion im Jahre 1988 erinnern, bei der Gerold Späth eines Samstags mit einem Megafon auf den Seedamm stand, um einen Text gegen die Verkehrsmisere zu verlesen und damit einen riesigen Stau verursachte; dies natürlich sehr zum Leidwesen der Automobilistinnen und Automobilisten. Die Sache ist mir deshalb so gut in Erinnerung, weil ich damals als junger freier Journalist für die damalige Lokalzeitung einen Bericht über die Aktion schrieb und der Chefredaktor ihn auf der Frontseite aufmachte. Ich weiss noch: Das gab sehr grosse Aufruhr, das Rapperswiler Polit- establishment beschwerte sich bei der freisinnigen Verlags- und Redaktionsleitung aufs Heftigste darüber. – Diese Angelegenheit sei stellvertretend für manch andere Kontroverse geschildert; jedenfalls erachtete es Gerold Späth bald einmal für gerechtfertigt, Rapperswil zu verlassen und nach Wagen bei Jona zu ziehen, um sich später je länger je mehr ins Ausland, insbesondere nach Italien und Irland, zu begeben. Heute hält er sich denn vorwiegend in diesen beiden Ländern auf. Doch nun weg von diesen Niederungen hin zum eigentlichen Grund der Preisverleihung!
Gerold Späth erhält heute den Jahrespreis der St. Gallischen Kulturstiftung in der Sparte Literatur für sein immenses literarisches Schaffen. Es macht keinen Sinn, an dieser Stelle die ganze Bibliographie zu nennen. Es seien nur einige seiner Werke herausgepickt: Sein grosses Debüt gab Gerold Späth mit dem Romans „Unschlecht“ 1970; es folgten später zahlreiche grössere Werke wie „Stimmgänge“ (1972), „Balzapf oder Als ich auftauchte“ (1977), Commedia (1980), „Barbarswila“ (1988), „Stilles Gelände am See“ (1991) oder zuletzt „Die gloriose White Queen“ (2001). Dazwischen erschienen immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten, Erzählungen, Reiseberichte und Hörspiele. Lange Zeit waren seine Bücher nun vergriffen; der Steidl-Verlag in Göttingen hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, das eine grössere Auswahl von Gerold Späths Werken wieder herauszugeben. Das geneigte Publikum wird dem Verlag dankbar sein. Denn nur noch über Antiquariate Zugang zu Späths Werken zu haben (wie das im Moment der Fall ist), das ist ein Zustand, der des Autors und dessen Werk unwürdig ist. Denn Gerold Späth gehört zu den Grossen der Gegenwartsliteratur, er ist einer der wenigen bedeutenden Schweizer Autoren der letzten drei Jahrzehnte, ein moderner Klassiker. Längst ist er so etwas wie eine Legende, hat Eingang gefunden in die Literaturgeschichten und Autorenlexika. Doch nicht einfach nur dieser Feststellungen wegen muss Späths Werk wieder zugänglich gemacht werden, sondern natürlich vor allem deshalb, weil es auch den kommenden Generationen von Leserinnen und Lesern nicht verborgen bleiben darf, was und wie Gerold Späth geschrieben hat. Mit welcher Fabulierlust, mit welchem Witz und Humor, mit welcher Komik, aber auch mit welcher Tragik Gerold Späth Figuren und Handlungen in seinen Werken zum Ausdruck bringt. In einem Autorenlexikon habe ich zu Späth im Zusammenhang mit seinem ersten Roman „Unschlecht“ Folgendes gelesen: Für den Leser irritierend sei, dass Späth erzählt, als würde die Welt aus Sprache bestehen, als gäbe es nicht die jahrzehntealten Darstellungsprobleme. Irritierend mag das für die einen oder anderen sein, doch viel eher ist Späths Wortgewaltigkeit faszinierend. Wie er es schafft, einen immer wieder in eine bisweilen absurde fantastische Welt zu entlocken, das hat mir bei der Lektüre der Werke immer wieder imponiert. Und dann dieser Sprachfluss. Vielfach ein kleines Rinnsal, dass sich dann steigert zu einem Bächlein, zu einem Bach, dann eben zu einem Fluss, der einen wahrlich mitreisst.
Den Leser, die Leserin derart zu binden, mitzuschwemmen, um beim vorherigen Bild zu bleiben, das macht Späth keiner so schnell nach. Einzige Bedingung: Als Leser, als Leserin muss man bereit sein, einzutauchen in diese Welt und darf sich dabei auch nicht scheuen, mit Absurditäten und Skurilitäten aller Art konfrontiert zu werden. Denn man bekommt es mit allerhand seltsamen Typen zu tun oder mit absonderlichen Todesfällen. Man trifft auf Groteskes, ein kleiner Mann kriecht in die Scheide seiner molligen Geliebten; sie gebiert ihn wieder durch die Nase, Ammen und Kühe geben nur noch saure Milch, weil sie sich Reden von Hitler anhören müssen, Fische ernähren sich von einer Wasserleiche, Artisten versuchen, auf dem Hochseil ein paar Nachfolger zu zeugen. Dies nur einige wenige Beispiele.
Ich meine, es sei nicht vermessen, Gerold Späth als eigentlichen Sprachkünstler zu bezeichnen. Als Fabulierer wird er zu Recht gerne bezeichnet, von höchst elaborierter Erzählweise wird gesprochen, die u.a. gekennzeichnet sei von Helvetismen und Neuerfindungen. Ins Barocke gehe sein Stil. Ein schweizerischer Günter Grass sei Gerold Späth, so hört man öfters. Tatsächlich: Die beiden liegen nicht weit voneinander weg, das hat die Literaturwissenschaft schon längst festgestellt. Diesbezüglich habe ich im Übrigen eine weitere eindrückliche Erinnerung an Gerold Späth: Auf Schloss Rapperswil hielten die beiden in den Achtziger Jahren einmal eine gemeinsame Lesung; der Rittersaal war bis auf den letzten Platz und darüber hinaus besetzt; beide lasen sie aus ihren Werken; ich darf sagen: Dieser Abend war für mich entscheidend, dass ich nachher die Bücher der beiden las und tatsächlich viele Gemeinsamkeiten entdeckte. Lange Zeit hat man nun von Gerold Späth nichts mehr gelesen und nur wenig gehört. Mit seinem neuen Buch „Die gloriose White Queen“ hat er sich letztes Jahr wieder in Erinnerung gerufen. Und er ist sich mit diesem Buch selber treu geblieben. Es ist zwar – gemessen an früheren Titeln, die teilweise doch recht umfangreich waren – ein vergleichsweise kurzes Buch. „Ein Abenteuer“ nennt es Gerold Späth und er nimmt uns in gewohnter Manier mit auf eine Fahrt mit einem heruntergekommenen Raddampfer mit einer ebenso heruntergekommenen Mannschaft. Technik und Stil haben sich in diesem Buch nicht wesentlich verändert; wir haben keinen grundlegend „neuen“ Späth erhalten. Vielleicht ist es ein wenig schwieriger geworden, drinzubleiben in jener anderen Welt, in die uns Späth entführt; einigen Kritikern ist es jedenfalls so ergangen. Einer schrieb: „Vielleicht muss man Seemann sein, um die abenteuerlichen Qualitäten dieses Buchs angemessen zu würdigen. Wir Landratten aber, wir gehen seekrank von Bord, ehe die White Queen wieder in den Hafen einläuft.“ – Nein, Seemann muss man nicht sein, man muss nur nicht den Anspruch haben, in den späthschen Wogen alles im Griff haben zu müssen, man muss nur eintauchen und sich treiben lassen können.
Gerold Späth, es ist und bleibt ein Erlebnis, Ihre Werke zu lesen. Sie haben für Ihr literarisches Schaffen schon viele bedeutende Preise erhalten, so zum Beispiel den von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis, den Preis der C.F. Meyer-Stiftung, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, den Internationalen Pressepreis der Stadt Rom, den Georg- Mackensen-Literaturpreis oder den Hörspiel-Preis der Stiftung „Radio Basel“. Die St. Gallische Kulturstiftung reiht sich nun in diese Liste ein; von der Bedeutung her mag unser Preis marginal sein, doch es war an der Zeit, dass Ihr Schaffen von einer offiziellen Stelle des Kantons St. Gallen gewürdigt wird. Wir freuen uns, Ihnen unseren Preis übergeben zu dürfen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerold_Späth