St. Gallische Kulturstiftung

2017, Frühjahr

Frédéric Zwicker

  • aus Rapperswil
  • Förderpreis über Fr. 10000.– für die Region See-Gaster
  • Sparte: Schriftsteller, Journalist, Musiker (u.a. Knuts Kofffer)

Urkunde

Frédéric Zwicker ist ein politisch hellwacher Autor mit frechen Ideen. Als Journalist pflegt er das Genre der Reportage mit auffälligem Sprachwitz. Mit seiner Band «Knuts Koffer» pendelt er zwischen jugendlichem Übermut und politischem Biss. All dies kommt in seinem Debutroman «Hier können Sie im Kreis gehen!» zusammen. Wie der 1983 geborene Autor aus dem Thema Altersdemenz einen Schelmenroman zaubert, hat die Literaturkritiker aller grossen Zeitungen in der Schweiz beeindruckt. Zwicker lässt einen 90-Jährigen als charmanten Misanthropen eine Demenz vorspielen, was ihm ermöglicht, einen melancholischen Rückblick auf sein Leben und einen ungeschönten Blick auf das in vielen grotesken Facetten eingefangene Leben im Pflegeheim zu werfen. Tiefsinn und Unterhaltung finden hier sehr schön zusammen. Ein Glücksfall für die Literatur.

Laudatio von Hansruedi Kugler, Stiftungsrat

Liebe Gäste

Ich fasse meine Laudatio gleich zu Beginn in einem Satz zusammen: Die St.Gallische Kulturstiftung verleiht heute seinen Förderpreis einem Frechdachs. Es gibt in St.Gallen ein tolles Kulturmagazin. Es heisst Saiten. Wohl die meisten hier im Saal kennen es. Die Saitenredaktion streut immer wieder Zucker über die Kunstszene, gelegentlich reibt sie aber auch frech und fröhlich Pfeffer und Salz in die Wunden des Kulturbetriebs und der Kulturpolitik. Das ist gut so und es ist nötig. Denn es gibt in unserer Region aufregende Theaterabende und verstörende Kunst. Aber die Ostschweiz ist eine streitscheue Wohlfühl-Kultur-Landschaft. Zwei Beispiele: Man freut sich, dass das Theater St.Gallen Thomas Hürlimanns Novelle «Fräulein Stark» ins Programm nimmt, ist dann aber enttäuscht, dass dieses Skandalstück lediglich als braves Hörspiel gegeben wird. Und enttäuscht ist man auch, dass man im Historischen Museum im St.Gallen keine kontroversen zeitgenössischen oder historischen Themen findet. Der dortige Direktor zeigt lieber japanisierende Farbholzschnitte. Das ist natürlich mutlos, lächerlich und belanglos. Kultur aber muss mutig sein, sie darf wehtun und sollte Grenzen ausloten: Politisch, persönlich, ästhetisch. Denn Kultur ist der stete Kampf gegen die Belanglosigkeit. Harmlose Unterhaltung ist nicht ihre Sache. Sie merken, ich werde ein bisschen pathetisch. Aber das gehört ja irgendwie auch zur Kultur. Besonders wenn es ums Sterben geht.

 

Womit diese, ich gebe es zu, etwas geschwätzige Vorrede, zu unserem Förderpreisträger und seinem Buch hinführt. Denn dieses Buch ist alles andere als belanglos und es geht darin auch um das Sterben.  Warum diese Vorrede?
1. … liefert Frédéric Zwickers Debütroman ein wunderbares Beispiel dafür, dass Literatur lebensnah und unterhaltsam sein kann und trotzdem überhaupt nicht belanglos sein muss. Dieser Roman ist kunstvoll, von realistischer Härte und düsterer Lebenssicht, aber serviert mit jener Leichtigkeit, jenem schwarzen Humor und jener Gefühlstiefe, die ihn zum Kunstgenuss und ein bisschen auch zur Lebensschule macht.
2. … hat Frédéric Zwicker im aufmüpfigen Kulturmagazin eine journalistische Heimat gefunden: Sprachspielerisch, frech, recherchestark. Zwicker spürt zum Beispiel die rassistischen Nebengeräusche am Schwägalp-Schwinget auf oder die sexistischen Pöbeleien am St.Galler Open-Air. Verbissen wirkt dies nie. Denn Zwicker verfügt über Sprachwitz und Lausbubencharme. Das ist auch einer der Gründe, warum ihm sein Debütroman so hervorragend gelungen ist.
3. … hat Frédéric Zwicker einen Sinn für Tempo und Rhythmus. Dies nicht nur, weil er Germanistik studiert hat. Entgegen allen Vorurteilen kann man in diesem Studium nämlich tatsächlich etwas Brauchbares lernen. Der Autor sagt jedoch selbst, dass ihm sein Verleger Dirk Vaihinger noch ein wenig geholfen hat. Dieser Helfer sitzt übrigens heute im Publikum. Ich vermute, seinen Sinn für sprachliche Dramaturgie hat Frédéric Zwicker auch deshalb, weil er Musiker ist und Liedtexte schreibt für seine Band «Knuts Koffer». Auch diese Texte sind unverschämt, witzig und scharf gewürzt. Zum hässlichen Wahlkampf in seiner Heimatstadt, der Rosenstadt Rapperswil-Jona, hat er die Liedzeilen gedichtet: «Politiker schissed uf Bürgerchöpf, und trotzdem schmöckts nach Rose.» Die CVP ist in diesem Lied eine Judas-Partei, der Verleger Bruno Hug ein kleiner Berlusconi. Klare Worte zu einem lüpfigen Sound. Der Song gegen die Durchsetzungsinitiative vor einem Jahr tönte sarkastisch: «Mir bruched Sündeböck zum glücklich sii» und war ein youtube-Hit.

 

Dieses Buch (zeigt das Buch) nun hat im letzten Jahr Aufsehen erregt und ist der Anlass, den Autor zu ehren. Alle grossen Schweizer Zeitungen haben es ausführlich besprochen. Selbst der Tages Anzeiger und die NZZ haben es gelobt. Und das passiert einem Ostschweizer Autor ja nicht alle Tage.  Ja, Sie wollen wahrscheinlich endlich wissen, was in diesem Roman steht!

 

Der 91-jährige Herr Kehr trifft im Pflegeheim seine Jugendliebe Annemarie wieder. Die Standesunterschiede hatten die Hochzeit der beiden vor 70 Jahren verhindert. Man hätte daraus leicht ein zuckersüsses Rührstück machen können – inklusive Seniorenhochzeit in Weiss und rüstigen Altersheiminsassen, die mit ihren Rollatoren Spalier stehen. Wahrscheinlich würde ich in diesem Fall aber keine Laudatio halten. Frédéric Zwicker hat ein ganz anderes Buch geschrieben. «Hier können Sie im Kreis gehen», so lautet der Titel des Romans. Es ist ein heimtückischer Titel.  Denn folgendes Schicksal droht uns allen: (liest einen Abschnitt vor) «Mal macht man einen Ausflug und dreht seine Schlurf-, Hink- und Rollstuhlrunden am See statt im Garten. Man isst vielleicht sogar frittierten Fisch im Restaurant, wo sich manche Gäste an den Nachbartischen dann furchtbar anstrengen, nicht hinzuschauen, wenn der brabbelnden Frau Cagliari das Fisch-Kartoffel-Speichel-Püree zum Kinn hinunterrinnt und sich von dort in einem langen Faden den Weg auf die Bluse sucht.»  So unverblümt drückt es Frédéric Zwicker in diesem Roman aus – oder vielmehr sein Antiheld, Herr Kehr. Dieser hat sich nach dem Tod seiner Frau und seines einzigen Freundes ins Altersheim eingewiesen. Er täuscht eine Demenz vor, weil er seiner Umgebung sich und seinen Pessimismus nicht mehr zumuten will. Das ist ein existenziell tiefsinniges Projekt und gleichzeitig ein raffinierter literarischer Trick. Das Buch wird zum Schelmenroman: Denn die vorgetäuschte Demenz erlaubt ihm, hinter diesem Schutzschild, hinter dieser Narrenkappe ungestört zu beobachten und Spässe zu treiben. Wenn Herr Kehr einer penetranten Freikirchlerin die Gehhilfe versteckt, damit sie ihre Pamphlete nicht ständig allen Hilflosen aufdrängt, dann spielt er den Racheengel. Wenn er einem Tisch-Nachbarn dessen Dessert wegisst, wird er zum hedonistischen Egoisten. Dann kommentiert er sarkastisch: «Das Angenehmste an Pflegeheimen ist, dass nur die wenigsten Insassen nachtragend sind. Dazu fehlt ihnen das Erinnerungsvermögen.» Wie wahr. Unter den Insassen gibt es bösartige Egozentriker, aber auch einen alten Gockel, der einen ganzen Harem um sich schart, jeden Tag eine andere Heimbewohnerin sexuell beglückt. Das tönt ja alles recht humorig. Dieser Roman bringt einem aber eher zum Schmunzeln als zum Grölen – was für die Qualität des Buches spricht. Denn Herrn Kehrs Streiche haben eine melancholische Seite – die Verlorenheit und Trostlosigkeit der Dementen, die Überforderung des Personals, das beschreibt er im atemberaubend sachlichen Telegrammstil. Der Autor findet ein prägnantes Bild für die Dementen. Für ihn sind sie Schalenmenschen, nur noch ihre äussere Hülle ist vorhanden.

 

Frédéric Zwicker hat seinen Zivildienst in Pflegeheimen absolviert. Er hat genau beobachtet. Diese journalistische Qualität tut dem Buch sehr gut. Und wenn Herr Kehr das Nichts zwischen dem Morgenessen, dem Mittagessen und dem Abendessen und das grosse Nichts in der Nacht benennt, macht Frédéric Zwicker auch allen philosophisch bewanderten Leserinnen und Lesern eine Freude. Und wenn man sich fragt, warum der Mann Kehr heisst, freuen sich auch noch die Germanisten! Denn der alte Herr kehrt dem Leben den Rücken, er ist aber auch Herr K. und lehnt sich somit an Franz Kafkas zeitlos-rätselhafte Antihelden an. Was ist das für einer, der Herr Kehr? Er ist ein sympathischer Misanthrop, der auf eine nüchterne, dann schützende Ehe zurückblickt: «Ursula war mein täglich Brot, das nie austrocknete», sagt er. Kein leckeres Croissant. Annemarie wäre ein solches gewesen. Herr Kehr schaut auf ein Leben voller Unglücksfälle und Selbstmorde zurück. Sein Onkel hängt sich auf, seine Tante erschiesst sich, seine Schwester stirbt mit einem Jahr, worauf sich der Vater zu Tode säuft und die Mutter an Lungenentzündung stirbt. Der Vollwaise lebt dann bei der kaltherzigen Tante und flüchtet als Jugendlicher in die Romandie, wo er ein fast schon märchenhaftes Glück erfährt. Später wird er Bauunternehmer, sein Sohn Paul, ein Träumer, wirft sich vor einen Zug. Ein Jahrhundert Sozialgeschichte einer hartherzigen Schweiz läuft mit der Erzählung mit.

Herr Kehr liebt noch einen einzigen Menschen: Seine Enkelin Sophie. Um nicht als Simulant aufzufliegen, darf er sich auch ihr nicht zu erkennen geben – was ihm, was Sophie und was uns Lesern fast das Herz bricht. Herr Kehr muss ab und zu in die Hose pissen und unverständlich brabbeln, sonst würde seine Maske fallen.
Frédéric Zwicker schafft es, die Monologe und Dialoge, die Innen- und Aussenperspektive, die Beobachtungen und Erinnerungen in 116 Kurzkapiteln luftig anzuordnen. Sie merken: Man wird gar nicht fertig, die Qualitäten aufzuzählen, die dieser Roman hat.

 

Der schreibende Frechdachs Frédéric Zwicker nimmt sich in seinem schmalen Roman viel vor – gelegentlich ist man versucht zu sagen: etwas zu viel. Denn das Buch hat ein paar kleine Schwächen: Die Beziehung des alten Herrn zu seiner Lieblingsenkelin ist etwas rührselig, seine Lebenschronik etwas überladen mit Schicksalsschlägen, das überraschende Auftauchen seiner Jugendliebe im Pflegeheim wirkt etwas genrehaft melodramatisch und der Autor macht etwas zu wenig daraus. Wollen wir den Autor dafür tadeln? Ja, natürlich kritisiert man solche Schwächen. Aber Sie haben gemerkt: Ich habe immer nur das Wort «etwas» benutzt. Dieses Wort ist entscheidend: Denn der Autor schafft das Kunststück, einen erschreckenden und gleichzeitig äusserst charmanten Roman zu schreiben. Der Förderpreis soll eine Ermutigung zu weiteren tollen Romanen, aufmüpfigen journalistischen Texten und unverschämten Liedern sein.

Belanglosigkeiten sind von diesem Autor nicht zu befürchten. Gut so.

https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/frederic-zwicker