Christine Fischers Werk ist entschleunigte Literatur, ist unspektakuläre Wortkunst jenseits von Effekthascherei und attraktiver Handlungsmuster. Ihre Romane erzählen von minimalen Bewegungen. Die konzentrierte Kargheit dieser Texte birgt aber eine ungeahnte Fülle. Die zarte wie kraftvolle Sprache beglückt auf heimliche Art. Ihre Kurztexte feiern Alltägliches, das scheinbar Kleine wie das universale Ganze als Offenbarung, bannen das Flüchtige für einen Moment. In knapper Form hat jedes Wort Gewicht, Geschmack. Erstaunlich anders als die wohlfeile Achtsamkeitsliteratur.
Wer sich auf Fischers Texte einlässt, schärft an ihnen oder auch einmal gegen sie die eigene Wahrnehmung, den Blick fürs Unscheinbare und vor allem für das eigentlich Wichtige. So führen Fischers Texte in eine zunehmende Vertraulichkeit mit dem Leben.
Lesung KALENDERSÄTZE
«Die Seligkeit eines am Schreibtisch verbrachten Tages»: So, liebes Publikum, stellt man sich ein Schriftstellerinnen-Leben doch vor… So wie in den eben gehörten «Kalendersätzen» von Christine Fischer. Die Kalendersätze stammen aus dem Jahr 1995, sie sind zu finden im Band «Von Wind und Wellen Haut und Haar», und sie sind, wie ich finde, typisch Christine Fischer – in mehrfacher Hinsicht.
Zum einen zeugen die Sätze von ihrer Kunst, knapp und zugleich poetisch, scheinbar einfach und zugleich vieldeutig das Glück oder auch die Kümmernis eines Tages auf den Punkt zu bringen.
Zum zweiten nimmt sich Christine Fischer gern ein formales Muster vor. Daraus entstehen Textkonglomerate, «Bündel» nennt sie die Autorin auch. Hier ist es ein Datum, ein Monat, genau zwölf, nicht mehr und nicht weniger, und genau ein Satz, nicht mehr und nicht weniger. Die Form setzt Grenzen, und bekanntlich schaffen Grenzen Freiheiten. Dazu gleich mehr.
Zum dritten schliesslich überlagern sich in diesen Kalendersätzen wie im Werk von Christine Fischer überhaupt das ganz Nahe und das ganz Entlegene, Alltag und Zauberei, «Schuh» und «Stern», man könnte auch sagen: Prosa und Poesie des Lebens.
Einfach also – und zugleich vieldeutig, formbewusst – und gerade dadurch frei, zaubernd in Alltagsdingen: Das alles kann die Literatur von Christine Fischer, das alles verdankt sich offenbar jener «Seligkeit eines am Schreibtisch verbrachten Tages», von der der Kalendersatz vom 3. Oktober gesprochen hat.
An diesen Schreibtisch setze sie sich nie hin ohne Lust, sagt Christine Fischer.
Und diese Lust überträgt sich auf die Leserin, auf den Leser. Besonders in ihren kurzen Texten, in diesen kleinen Büchlein, die mit meine liebsten sind. «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von 2017: Darin gibt es «Anrufungen», zu denen sich dann «Behauptungen» gesellen oder «Anfechtungen», «Mutmassungen» oder «Lobpreisungen». Oder «Im Mai. Am Montag», 2019 erschienen: Da flaniert man durch ein ganzes Jahr hindurch, sehr streng gehaltenen Satzanfängen entlang: «Im Februar». «Am Mittwoch». Oder: «Mit der Zeit». Mit der Zeit zu gehen, wörtlich und im übertragenen Sinn, gibt dem Schreiben Struktur und Anstoss: den Anstoss, wahrzunehmen, was gerade ist, sich auszumalen, was sein könnte – und zuzulassen, was die Wörter gerade mit der Autorin im Sinn haben.
Denn das ist, selbst in diesen kurzen Texten, nicht von vornherein klar, sondern ergibt sich. Der Anstoss ist da, ein Stichwort, ein Rhythmus – und dann entwickelt der Text sein Eigenleben in allergrösster Freiheit. Er ist ein Fluss, mal gemächlich fliessend, mal sprudelnd oder über Stromschnellen springend. Die Sprache sucht und findet ihr eigenes Sprachbett.
Hören Sie, was so entstehen kann, in einem nächsten kurzen Text von Christine Fischer: «Nacht-Denken», 2014 im Kulturmagazin Saiten erschienen.
Lesung NACHT-DENKEN
Fantastisch, was sich in diesem kurzen Text aus der Nacht alles ergeben hat. Mäandernd. Sprach-spielerisch, neugierig auf das, was die Wörter mit sich und mit uns machen wollen, wenn man sie lässt und ihnen zugleich genau auf die Finger schaut. In der Nacht haben die Wörter vermutlich besonders viel Bewegungsfreiheit. Christine Fischer kennt sich aus damit. Sie macht Nachtwachen beim Hospizdienst. Sie ist eine Nachtspezialistin. Die Nacht sei eine eigene Welt, sagt sie, mit ihren Geräuschen, mit ihrer Stille, mit ihrer Unfassbarkeit. Diese fasst sie dann wie leichthin in Sätze wie: «In der Nacht ist der Körper gross und der Verstand klein.» Oder: «Die Erde ist ein Trampolin aus Eselshaut.»
Fischers Texte, Fischers Sätze sind Angebote (ich zitiere mich kurz selber, aus der Besprechung des Buchs «Im Mai. Am Montag»): – «man bleibt an ihnen hängen, dreht und wendet sie, pflichtet ihnen bei oder sinniert über sie, hat Aha- und Ach-ja-Erlebnisse, schärft an ihnen oder auch einmal gegen sie die eigene Wahrnehmung, den Blick fürs Unscheinbare und vor allem für das eigentlich Wichtige. Wer sich auf ihre unspektakuläre Wortkunst einlässt, wird an Christine Fischers Hand in eine zunehmende Vertraulichkeit mit dem Leben geführt. Und lernt es zu nehmen, wie es ist (Zitat Fischer): «Mit der Zeit stellt sich die Erkenntnis ein, dass wir alle Überlebende sind.»
Überlebende sind im weitesten Sinn auch die Hauptfiguren ihrer Romane. Es sind durchwegs eigenwillige Frauen, Lore, Sidonie, Ruzica, Linda und wie sie alle heissen. Sidonie im Roman «Augenstille», die eines Tages beschliesst, ihre Augen nicht mehr zu öffnen. Oder Lore in «Lebzeiten», dem Roman einer Demenzerkrankung. Lores Vorsatz könnte vielleicht auch für das Schreiben von Christine Fischer gelten: «Solange ich schreibe, praktiziere ich den aufrechten Gang. Es ist eine Form von Widerstand.»
Sechs Romane hat Christine Fischer in fast regelmässigen (und regelmässig sich etwas verlängernden) Abständen publiziert: «Eisland» 1992, «Lange Zeit» 1994, «Augenstille» 1999, «Solo für vier Stimmen» 2003, «Nachruf auf eine Insel» 2009, «Lebzeiten» 2015. Hinzu kommen die Erzählungen «Vögel, die mit Wolken reisen», «Els» und zuletzt «Herz.Kranz.Gefäss» 2021.
Die blosse Aufzählung macht klar: ein imposantes Erzählwerk ist der Preisträgerin zu verdanken – es zu würdigen, bräuchte viel mehr Zeit und Raum, als hier zur Verfügung steht. Ebenso kann von den drei Theaterstücken hier nicht die Rede sein, auch nicht von der Lyrikerin Christine Fischer oder von ihren musikalisch-literarischen Programmen. Man kann nur bewundern, wie virtuos und formsicher sie sich in allen Textsparten bewegt.
Eine kurze Erzählung soll aber unbedingt hier Platz haben. Die Ballade von Kopaka: Sie ist wie die «Kalendersätze» im Band «Von Wind und Wellen Haut und Haar» zu finden.
Lesung «KOPAKA 1»
Die Geschichte gefällt mir nicht zuletzt deshalb so gut, weil sie nebenbei davon erzählt, wie Erzählen entsteht. Aus der Begegnung. Aus dem Interesse zweier Menschen füreinander. Aus einer einfachen Frage: Ich weiss etwas – wollen Sie es hören? Ein Nicken… Und dann verändert sich die Stimme der namenlosen Erzählerin, wird dunkel und weich, ein Singsang hebt an, aus ihm wird später ein Leuchten: «Es war einmal…». Schöner kann man kaum in ein Bild bringen, was Literatur ist, wie sie zustande kommt und was sie vermag.
Von Kopaka wieder zurück in die Ostschweiz oder kurz noch weiter zurück, ins Luzernische. Dort, in Triengen, in der nördlichsten Ecke des Kantons, ist Christine Fischer aufgewachsen, auf dem Land, in einer Familie, in der mit Wörter gespielt, mit Sprache experimentiert wurde. Namentlich der Vater, erzählt Christine Fischer, hat das Reimen geliebt und bei den Kindern gefördert. Am Sonntag rezitierte er in der Stube Balladen, im Keller hängte er Zettel mit Sätzen auf, auf jedem Configlas stand ein Reim des Vaters… auch das ist eine schöne Geschichte darüber, wie Literatur entstehen kann und was sie vermag. Für Christine Fischer war jedenfalls schon früh klar: Ich will Schriftstellerin werden. Das ist sie, neben ihrem anderen Beruf als Logopädin, denn auch geworden, zu unserem und ihrem Glück.
Von diesem Glück, Leseglück, dem Glück, durch Texte ins Nach- und Weiterdenken gebracht zu werden und ins Staunen, wie vielgestaltig und reich an Wundern und Wörtern, aber auch an Verletzungen unsere Welt ist – von diesem Leseglück also schneide ich mir selber immer wieder gern eine Scheibe ab, mit und dank deinen Büchern, liebe Christine. Sie machen nicht Lärm um sich und um dich, sondern sie machen uns die Ohren und Augen auf, sie inspirieren das Schmecken, das Tasten, das Denken, das Fühlen. Sie öffnen die Poren, sie sind, kurzum, eine Schule der Sinne und der Genauigkeit. Literatur, die das leistet, kann man in lärmigen Zeiten wie den unseren nicht genug loben.
Aber mit dem Loben ist es andererseits auch eine schwierige Sache, liebes Publikum. Denn die schönsten «Lobpreisungen» hat Christine Fischer selber schon geschrieben. Sie sind mit keiner Laudatio zu übertreffen. Drum sollen sie jetzt hier den Schluss machen.
Lesung LOBPREISUNGEN
https://www.christinefischer.ch/