St. Gallische Kulturstiftung

2024, Frühjahr

Bettina Scheiflinger

  • aus Wil
  • Förderpreis über Fr. 10000.– für die Region Fürstenland
  • Sparte: Literatur

Urkunde

Vielseitig und mit kreativem Mut vertieft sich Bettina Scheiflinger als Schriftstellerin in ver­schiedene literarische Welten und erkundet schreibend eine beeindruckende Bandbreite von Themen und Genres. Ob es sich um ergreifende Romane, inspirierende Kurzgeschichten, Theater­ stücke, Kurzhörspiele oder fesselnde Lyrik handelt, ihre Werke tragen stets unverkennbar ihre Hand­schrift. In einer Welt, die oft von Lärm und Ober­flächlichkeit geprägt ist, entfaltet sie mit ihren Worten eine wohltuende Ruhe und Tiefe. Schon in ihrem Debütroman «Erbgut» überzeugt sie durch ihre sprachliche Virtuosität und erzählerische Finesse. Ihr Werk vermag einen wichtigen gesell­schaftlichen Diskurs anzustossen und belegt eindrücklich ihre sprachkünstlerische Begabung, weshalb Bettina Scheiflinger eine vielversprechende Zukunft als Literatin verheissen wird.

 

Laudatio, von Cornelia Mechler, Zürich

«Bei meiner Geburt jage ich meiner Mutter einen Schrecken ein. Niemand muss mich aus ihr herausholen, ich will von selbst heraus. Es ist sogar noch einige Wochen zu früh. Ich presse mein Gesicht durch den Geburtskanal. Augen voran komme ich zur Welt. Ich will ihr frontal begegnen, mich ihr entgegenstrecken, und sofort sehen, was da ist.»

 

So beginnt der Roman «Erbgut» von Bettina Scheiflinger. Und schon in den ersten Sätzen wird deutlich: Hier wurde ein kraftvolles Debüt erschaffen. Geschrieben von einer Autorin, die 1984 in der Schweiz zur Welt kam, deren Lebensmittelpunkt aber in den letzten Jahren vor allem in Wien liegt.

 

…und die heute wohlverdient den Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung erhält.

 

Ich hatte das grosse Glück, zwei Lesungen von und mit Bettina Scheiflinger moderieren zu dürfen. Ein Glück war dies nicht nur, weil ich ein grossartiges Buch lesen und mich intensiv damit beschäftigen durfte. Das grösste Glück bestand und besteht darin, dass ich dabei der Autorin selbst begegnen und ein wenig in ihre literarische Welt eintauchen durfte. Ich traf auf eine offene, fröhliche, dabei stets auch sehr reflektierte Persönlichkeit. Sie gab bereitwillig Auskunft zur Entstehung ihres Debüts und zu ihrem Leben als Schriftstellerin – und wenn sie liest, so hört man ihr unendlich gerne zu.

 

Zum Schreiben kam Bettina Scheiflinger aus einem inneren Impuls heraus, da war sie bereits 26 Jahre alt und als Lehrperson tätig. Zunächst schrieb sie für sich, eine Buchveröffentlichung hätte sie sich nie zugetraut. Wir alle können froh sein, dass sich dies noch ändern sollte. Zunächst aber blieb Bettina vorsichtig. Sie begann mit Kursen am Iselisberg im Thurgau bei der Schriftstellerin und Literaturvermittlerin Michèle Minelli, belegte Kurse an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich, nahm an vielen Literaturwettbewerben teil, bei denen sie auch oft reüssierte. Der Sieg bei einem Wettbewerb in Wil verlieh ihr schliesslich einen gehörigen Motivationsschub und das Bewusstsein, dass es klappen könnte mit dem Wunsch, aus einem Hobby einen Beruf zu machen. Von nun an wollte sie das Autorinnendasein professionalisieren. Dass sie dafür die Heimat Schweiz verlassen musste, die kleine Stadt Wil mit der Weltstadt Wien tauschen musste, das nahm sie ohne Wenn und Aber in Kauf. Bettina begann ein Studium der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in der österreichischen Metropole, allen anfänglichen Widerständen zum Trotz. Für zwei Semester konnte sie auch am Literaturinstitut in Biel studieren, wobei sie rasch merkte: Der Landeswechsel hatte ihr gut getan, ja, man kann sagen: Wien war gut zu ihr gewesen, Wien tat ihrem Schreiben gut.

 

Das Studium beinhaltete den Kursbesuch in jeglicher literarischen Richtung: Drama, Prosa, Textkritik – auch «Ghostwriting» standen auf dem Programm. Und natürlich auch die Lyrik, eine Gattung, die der Autorin nach eigener Aussage, wenig behagte. Dass sie dieses Genre aber durchaus beherrscht, möchte ich Ihnen gern beweisen. Mit der Erlaubnis der Autorin möchte ich einen lyrischen Text zitieren, den sie während des Studiums schrieb. Die Vorgabe lautete «Prosagedicht» mit der groben Thematik «Essen». Bettina Scheiflinger schrieb Folgendes:

 

Royale Zeremonie

Die Prinzessin schläft inmitten von Prinzessinnen. Ein Rivalinnengemach, den Dolch mit der Haut verwachsen.

 

Traubentemperatur, eng zusammengerückter Krönungstraum. Königinnengelée ihr eingeflößt durch eine Amme.

 

Sie tanzt im Kopf auf Schwebebalken, bis maiwarm sie hungrig erwacht.

 

Jetzt ist sie Königin, die Mörderin.

 

Das Volk hält nichts, ihr Saugapparat hält einen Gedanken: süßer Nektar.

 

Die Königin schlingt, sind flugs zahlreiche Buhler rundherum. Ihr Leben gesichert, hoch lebe die Königin.

 

Im Doppelsalto des Sommers scheint Zweifel weit entfernt. Ein Fest, esst! Herbst und süß.

 

Mentalatmosphäre nähert sich 35 Grad für den Prinzessinnenschlaf.

 

Für mich beweist dieses Gedicht gleich mehrere Dinge:

Bettina Scheiflinger hat Fantasie, sie kann mit knappen Worten eine «Welt» erschaffen, sie ist sprachvirtuos – und sie ist zu bescheiden, wenn sie sagt, Gedichte lägen ihr nicht.

 

Zurück zum Studium nach Wien: Besonders geprägt hat die Autorin die Begegnung mit experimentelleren Formen des Schreibens. Sie setzte sich intensiv mit Texten von Elfriede Jelinek, Annie Ernaux und Agota Kristof auseinander. Und auch die Werke von Marlen Haushofer und Robert Schneider analysierte Bettina Scheiflinger, durchdrang diese, lernte vom Gelesenen.

 

Es ist nicht verwunderlich, aber doch ein Zeichen des enormen Talents der Autorin, dass sich in ihrem Debüt «Erbgut» zahlreiche «Spuren» der Studienlektüre finden lassen.

 

Mit ihrer Aneinanderreihung von einfachen, kurzen Sätzen, die sich um eine erzählerische Objektivität jenseits aller Emotionen bemühen, steht Bettina Scheiflinger in der Tradition einer Agota Kristof oder Marlen Haushofer. Mit Haushofer und Ernaux wiederum verbindet die Autorin die Auseinandersetzung mit feministischen Themen. Hinterfragt werden die Rolle der Frau in der Gesellschaft und auch die persönliche Freiheit. Persönliche Geschichten werden gekonnt mit einem breiteren sozialen Kontext verwoben.

 

Mit dem Autor Robert Schneider verbindet die Autorin das gekonnte Erschaffen von komplexen Handlungssträngen, die verschiedene Ebenen und Zeitebenen miteinander verweben. Der Roman «Erbgut» besteht aus zahlreichen Textabschnitten, die zeitlich sehr springen, erzählt werden dabei 70 Jahre Familiengeschichte. Dennoch behält man als Leserin stets den Überblick. Das ist wahre Schriftstellerkunst!

 

Bei all dem Entdecken von Parallelen zu grossen Namen der Weltliteratur, findet die Autorin dabei doch stets ihren eigenen Ton und ihren eigenen Stil. Es ist eben gerade kein «Abklatsch» von schon einmal Dagewesenem. Nicht nur dafür gebührt Bettina Scheiflinger mein grösster Respekt.

 

Wir begegnen im Roman «Erbgut» den Lebensspuren von vier Generationen aus der Zeitspanne von den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Szenen aus verschiedenen Biografien stehen wie Mosaiksteinchen nebeneinander, bis allmählich sichtbar wird, wie über Generationen Verhaltensweisen, Lebensentwürfe und Traumata weitergegeben werden.

 

An schweren Themen mangelt es dem Roman nicht: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Krankheit, Kindsverlust, häusliche und sexualisierte Gewalt.

Und doch ist es kein schweres Buch. Niemand wird es deprimiert zur Seite legen. Gebannt folgt man den Lebenswegen, Lebensspuren und ahnt, dass die grossen Fragen, die das Buch stellt, auch einen selbst betreffen: Wie wurde ich zu der, die ich bin? Wie viele Erlebnisse, Erinnerungen und Traumata meiner Familie trage ich in mir, und was macht das mit mir?

 

Ich fragte Bettina einmal, wie sie die Themen zu ihren Texten fände, ob sie auch so eine Autorin sei, die stets mit gespitztem Bleistift und einem schwarzen Notizbuch unterwegs sei, bereit, Ereignisse, Verhaltensweisen oder besondere Charaktere schriftlich festzuhalten. Bettina verneinte dies. Sie meinte: «Die Themen kommen zu mir, sie sind aus dem Leben gegriffen, aus dem Leben, das in vielem auch das meine sein könnte.»

 

Ich wünsche Bettina Scheiflinger, dass ihr noch sehr viele Themen begegnen, und ich freue mich auf die vielen weiteren Texte, die sie uns noch schenken wird.

 

Heute Abend feiern wir jedoch den Moment. Gratulieren wir also Bettina Scheiflinger von Herzen zum Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung!

https://www.bettinascheiflinger.com/