Geschichtensammlerin, Dokumentalistin eines eigenwilligen Dialektes, Mundartwortspielerin – all das ist Berta Thurnherr. Und noch viel mehr. Vor Jahrzehnten hat sie angefangen, Geschichten von Menschen der «Rheininsel» Diepoldsau zu sammeln. Festgehalten wurden sie im lautmalerischen «Tippìlzouar»-Dialekt. Berta Thurnherr erzählt ihre Geschichten unprätentiös – kein blosser Lobgesang auf die Mundart, sondern ein ganz selbstverständliches «Brauchen» dieser Sprache. Ein Spiel mit Nuancen und ein Ausloten einer Sprache, die in der Dialekt-Landschaft eine besondere Stellung einnimmt. Die Beschäftigung mit ihrer Muttersprache hat zu Wortspielereien und Klangexperimenten geführt. Zahlreiche eigene Geschichten und Gedichte sind über die Jahre entstanden. Berta Thurnherr trägt ihre Geschichten weit über das Rheintal hinaus. Ihre Lesungen ziehen das Publikum in den Bann.
Sehr geehrte Damen und Herren
Sehr geehrte Preisträgerinnen
Liebe Berta Thurnherr
«Dem Volk aufs Maul schauen». Dieser bekannte Satz stammt von Martin Luther. Er hat ihn für seine Bibelübersetzung konsequent umgesetzt. Wenn dies bedeutet, dass genau hingehört wird, dass die sprachlichen Feinheiten gespürt, verstanden und letztendlich festgehalten und weitergegeben werden, dann gibt es auch 500 Jahre später eine Frau, die das mit Erfolg macht: Berta Thurnherr. Sie setzt sich mit ihrem Dialekt auseinander, hält ihn fest, arbeitet mit ihm, bringt ihn unter die Leute – dies in einer faszinierenden Art und Weise. Genau dafür wird sie heute ausgezeichnet. Dialekt ist vieles: Heimat und Verbundenheit. Dialekt ist Muttersprache. Dialekt ist etwas, das man vielleicht verliert, das aber immer dann wieder wichtig wird, wenn die Botschaft emotional ist. Ja, Mundart ist eben auch flüchtig. Sie entwickelt sich, verändert sich, schleift sich ab. Deshalb ist notwendig, dass sie wertgeschätzt und dokumentiert wird.
Berta Thurnherr lebt in Diepoldsau. Eine Gemeinde mit einigen Spezialitäten. Eine davon ist die markante Sprache, für Aussenstehende manchmal schwer zu verstehen. Auch in der eh schon eigenwilligen Rheintaler Dialekt-Landschaft nimmt Diepoldsauerisch eine besondere Stellung ein. Diepoldsauerisch hat etwas, was fast allen anderen Mundarten fehlt. Es hat eine Botschafterin: Berta Thurnherr. Und so viel schon mal vorweg: Es kommt immer wieder vor, dass sie nach einer Lesung zu hören bekommt: «Wir haben zwar lange nicht alles verstanden, aber die Melodie war wunderbar».
Eine Erzählerin braucht eine gute Stimme. Das hat Berta Thurnherr, die auch eine gute Sängerin ist, zweifelsohne. Neben dem Mund braucht es noch ein anderes Sinnesorgan: Ein feines Ohr – und auch das hat sie in ausgeprägter Form. Das exakte Zuhören stand am Anfang ihrer Arbeit mit der Diepoldsauer Sprache. Vor rund 40 Jahren hat sie zusammen mit ihrer Schwester Geschichten gesammelt. Alte Leute, welche die 1930er und 1940er Jahre noch erlebt hatten, haben ihr ins Mikrophon gesprochen. Ein halbes Jahr lang hat sie diese Geschichten von Armut, Schmuggel, Grenzerfahrungen, Kriegsangst transkribiert. Nicht einfach eins zu eins, sondern so, dass die Art des Erzählens, die Persönlichkeit der Erzählenden spürbar blieben. Diese Arbeit hat viel mit dem «Sich in die Leute hineinversetzen» zu tun. Mit der Haltung, den Interviewten viel Platz zu geben. Je mehr dies gelang, um so genauer, authentischer und intensiver wurden ihre Geschichten.
Berta Thurnherr suchte nicht das Anekdotenhafte. Vielmehr ging es ihr darum, die Erzählweise – das, was hinter den Sätzen mitschwingt, sozusagen die Obertöne – rüberzubringen. Die ganz feinen Nuancen, den Rhythmus, die Melodie und letztendlich den Zauber dieser besonderen Sprache spürbar werden zu lassen. Aus den Interviews ist eine Sammlung von Geschichten entstanden. Ein wertvoller Blick in die Vergangenheit. Kombiniert mit einer sehr feinfühligen Berücksichtigung der Erzählweise. Die Verarbeitung der Interviews hat bei Berta Thurnherr die Lust an einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Mundart geweckt. Als junge Frau hätte sie eigentlich gerne Sprachen studiert, hat sich dann aber für eine Kaufmännische Ausbildung entschieden und ist schliesslich bei ihrer ureigenen Sprache hängengeblieben. Zum Glück. Die Freude am Umgang mit dieser Sprache liess sie nicht nur zur Sammlerin von Geschichten und Wörtern werden, sondern auch zur Wortspielerin. Im Verlaufe der Jahre sind zahlreiche Texte entstanden. Eigene Geschichten und Gedichte im «Tippìlzouar» Dialekt. Darin lotet sie die Mundart aus und spielt mit all ihren Feinheiten – wie eine Malerin, die zwei Farbstriche nebeneinandersetzt und eine dritte, an sich nicht vorhandene Farbe entstehen lässt. Die Mundart wird aus dem Alltag herausgenommen und auf eine neue Ebene – die der Literatur – gebracht. Dies immer auch im Bewusstsein, dass Dialekt zuerst einmal eine Sprache zum Sprechen und zum Hören ist. Und in Anerkennung der Tatsache, dass «tippìlzouarsch» Schreiben schwierig und dass das Lesen anspruchsvoll ist.
Es gibt das wunderbare Hörbuch «As wöart schù wööara – ma tuat wamma kaa». Es gibt die Diepoldsauer Version des aramäischen Vaterunsers. Es gibt Texte für Kinderlieder, für ein Kinderbuch und für Theaterstücke; und vor allem ist Berta Thurnherr in rund 400 Lesungen aufgetreten. Egal ob im Rheintal oder weit weg, sie schafft es, den Funken springen zu lassen. Sie lässt die Anwesenden eintauchen in die Welt einer Mundart, die im ersten Moment sperrig und rau wirken kann, die aber lautmalerisch und warm ist. Es gelingt ihr, Ohr und Herz für den Zauber und Variantenreichtum dieser Sprache zu öffnen.
Ich habe mit einem Satz von Martin Luther begonnen und möchte mit seiner Antwort auf die Frage «Was würden Sie tun, wenn Sie morgen sterben würden?» aufhören. «Einen Apfelbaum pflanzen», lautete die Antwort. Ein Baum, der gut verwurzelt ist, der stark in der Rheintaler Landschaft steht, der blüht, der Früchte trägt… all das trifft auf das Schaffen von Berta Thurnherr zu. Vor Jahren hat sie diesen Geschichten-Baum gepflanzt. Sie sorgt dafür, dass er blüht und Früchte trägt. Längst ist es ein mächtiger, fast afrikanisch anmutender Baum geworden. Unter diesem Baobab entstehen ständig neue Geschichten. Auf weitere Geschichten und Wortspielereien sind wir gespannt. Und für das bisherige Schaffen danken wir – unter anderem mit dem Anerkennungspreis der St.Gallischen Kulturstiftung.
Berta, vielen Dank.
ùfam Seearoasablatt
o grüüa
schüüa Frosch grüüa
Frosch grau
ùfam ggrììsalatta Schtùùa
o grau
schlau Frosch grau
Frosch schwarz
ìm Schtìnkknoazìschlamm
o schwarz
nüd aso schüüa wi Frosch grüüa
abar o schlau wi Frosch grau
Voogìl dòmm Vogel auf Baum
sìngt singt
Sùmmar Sommer
Bòmm Baum
Voogìl dòmm Vogel auf Baum
sìngt nümma singt nicht mehr
Hearbscht Herbst
Bòmm Baum
Voogìl Vogel
nümma dòmm nicht mehr auf Baum
Wìantar Winter
Bòmm Baum
Voogìl Vogel
wìdar dòmm wieder auf Baum
sìngt singt
Früalìg Frühling
flüüssìd Wöartar darhäar
tùand wäallala
brüüdala
schnöarala
träägìd Gedanka
wi Schwään doar t Lùft
schtriichlìd nüd nu da Schtüana
t Eggar ab
ùnd flüüssìd wittar
ìn Sean ìn Flùss ìs Meer
ùnd mìschat sì
mìt Kläng ùs andara Wäalta
wöarìd nöüì Wöartar
wi s Wassar ìm Rii
wo kùnnt ùnd gòòt ùnd kùnnt ùnd gòòt
ùnd glii
ìss
gäär niia s glii
fliessen Worte her
klingen singen
tragen Gedanken
wie Schwäne durch die Luft
streicheln nicht nur Steine
rund
fliessen weiter
in den See, den Fluss, ins Meer
mischen sich
mit Klängen aus andern Welten
werden neue Worte
wie das Wasser im Rhein
das kommt und geht und kommt und geht
und doch
niemals dasselbe Wasser ist