St. Gallische Kulturstiftung

2018, Winter

Anna Stern

  • aus Zürich
  • Förderpreis über Fr. 10000.– für die Region Rorschach
  • Sparte: Literatur

Urkunde

Mit bisher zwei Romanen und einem dicken Erzählband hat die 1990 in Rorschach geborene Anna Stern bereits ein umfangreiches Werk vorzuweisen. Die studierte Umweltnaturwissenschafterin ist als Doktorandin mit der Erforschung von Antibiotikaresistenzen beschäftigt. Ihr naturwissenschaftliches Wissen fliesst immer wieder mit Gewinn in ihre Literatur. Anna Stern verbindet raffiniertes, mehrschichtiges Erzählen mit solider Recherche, spannender Handlung und einem feinsinnigen Ausloten von Seelenlagen. Ihr Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bekam sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine äusserst positive Besprechung. Nachdem die Autorin im Sommer 2018 beim Bachmann-Preislesen den 3sat-Preis erhalten hat, ist sie über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Die St.Gallische Kulturstiftung ehrt die junge Autorin deshalb mit einem Förderpreis.

 

 

LAUDATIO VON HANSRUEDI KUGLER, STIFTUNGSRAT

Meine Damen und Herren, liebe Gäste

 

Als Laudator kommt man bei Anna Stern in eine knifflige Lage. Man könnte es sich zwar leicht machen und ausrufen: Grosses Talent! Enormer Fleiss! Tolle Bücher! 3sat-Preis beim Bachmann Wettlesen in Klagenfurt gewonnen! Jawoll, alles richtig.

 

Nur gerät man da in ein verzwicktes Dilemma. Anna Stern hat nämlich mit ihren erst 28 Jahren nicht nur bereits zwei Romane und einen 350 Seiten dicken Erzählband publiziert. Letzterer wurde sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hoch gelobt – immerhin sitzen dort einige der tonangebenden Feuilletonisten in Deutschland. Nein, Anna Stern ist eben auch Naturwissenschafterin, Doktorandin, eine jener Forscherinnen, die Antibiotika-Resistenzen überlisten wollen – und damit Leben retten könnten.

 

Soll man sie nun mit einem Förderpreis ermutigen, weiter Literatur zu machen oder darauf hoffen, dass sie das Problem dieser Antibiotika-Resistenzen löst? Wie gesagt: Ein Dilemma.

 

Mit einem Dilemma muss man zwar manchmal leben, aber mit einem Dilemma sollte keine Laudatio enden. Vielleicht lässt sich das Dilemma auflösen. Vielleicht findet man Gemeinsames! Wenn es ums Leben geht, kann man ja mal zum Arzt gehen: Ein Internist würde wohl sagen: «Hören Sie auf mit dieser Fantasterei, setzen Sie alle Energie in die Wissenschaft. Die Welt wird es Ihnen danken.»

 

Ein Psychiater würde etwas ganz Anderes sagen: «Unbedingt Literatur, Frau Stern! Denn Ihre Erzählungen haben auf das Seelenleben ihrer Lesenden einen heilsamen Einfluss. Die Seele kann genau so krank machen wie ein Bazillus – und Literatur kann in diesem Sinne Resistenz verhindern – dann nämlich, wenn sich die Leserseele nicht verhärtet: Im Vorurteil, in der Selbstgefälligkeit, in der Empathielosigkeit, im Mangel an Zukunftsvorstellungen. Also: Literatur schützt vor emotionaler Ignoranz!» Das wäre mal ein kluger Psychiater!

 

Nun: Anna Stern muss selbst entscheiden, wohin sie mit ihrer Lebensenergie will: Sie muss selbst entscheiden, ob sie in 40 Jahren lieber den Nobelpreis für Medizin oder den Nobelpreis für Literatur erhalten möchte. Im Ernst: Literatur sollte man nicht unterschätzen. Weshalb würden wir, würde die St.Gallische Kulturstiftung sie sonst fördern? Wir überlegen uns die Förderung schon genau. Das naheliegendste Mittel, die Seelen von Lesern aufzuheitern, ist Humor.

 

Nun: Als es um die Vorbereitung auf diese Preisverleihung darum ging, eine Textauswahl zu bestimmen, sagte mir Anna Stern am Telefon: «Herr Kugler, das überlasse ich lieber Ihnen.» Und sie fügte fast schon entschuldigend hinzu: «Grad luschtig sind mini Gschichte ja nöd grad.»

 

Das führt mich zur Frage: Muss man sich für Literatur entschuldigen, die nicht lustig ist? Ich gebe zu: Ich lache gerne – auch als Leser. Und wenn man die schwerblütige Shortlist des kürzlich vergebenen Schweizer Buchpreises durchgelesen hat, kann man schon seufzend sagen: ein bisschen Humor würde der Schweizer Literatur gut nun – und man bedauert, dass Thomas Hürlimanns «Die Heimkehr» nicht nominiert war. Aber ich schweife ab. Also: Muss Literatur lustig sein?

 

Natürlich nicht. Das wird deutlich in der Erzählung «Le Fantôme», die uns Diana Dengler lesend so wunderbar nahegebracht hat. Denn wer diese Erzählung gelesen oder gehört hat, der merkt: Hier wirkt die literarische Antibiotika sehr wohl gegen soziale Gleichgültigkeit, sie wirkt gegen emotionale Abstumpfung, sie wirkt gegen gesellschaftliche Ignoranz.

 

Bleiben wir noch ein wenig bei diesen literarischen Antibiotika. Denn Literatur kann uns gegen unsere eigene Dummheit schützen, indem sie uns wachhält, indem sie uns empfindsam macht, hellhörig und letztlich respektvoll gegenüber dem Leben. Jeder, der diese Erzählung gehört oder gelesen hat, wird nie mehr naiv der Versuchung nachgeben, eine ihm lästige Person zu verraten, zu opfern, zu verachten. Da haben wir es: Literatur schützt Leben.

 

Friedrich Schiller nannte das einst «Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts» und würde wagen: In der Literatur finden Sinnlichkeit und Vernunft zusammen. Und vor kurzem las ich im Tages Anzeiger: «Lesen kann auch gegen Depressionen helfen. Insgesamt sind Vielleser resilienter – das ist ja heute das Zauberwort. Man sagt sogar, dass Leser um ein, zwei Jahre länger leben.» Blöd nur, stammt das Zitat von einer Verlegerin, der Chefin des Piper-Verlags Felicitas von Loewensberg. Und die will ja schliesslich Bücher verkaufen. Aber auch sie spricht von Resilienz, also von der Widerstandskraft. Da sind wir schon wieder bei den Antibiotika.

 

Allerdings: Für Autorinnen und Autoren kann Literatur auch gefährlich sein – Klagenfurt jedenfalls war für Anna Stern eine Achterbahnfahrt: «Nach der Jurydiskussion am Donnerstag wollte ich gleich wieder abreisen», beschrieb sie ihre Niedergeschlagenheit nach ihrer Lesung, denn da wurde ihr Textausschnitt von einzelnen Juroren grob verrissen – doch dann erhielt Anna Stern den 3sat-Preis – übrigens für einen Textausschnitt eines Romans, der im Frühling erscheinen wird. Die Jurymehrheit war also ganz angetan von Anna Sterns Text.

 

Wie auch immer: Die von Diana Dengler vorgestellte Erzählung «Le Fantôme» macht deutlich: Hier schreibt eine Autorin mit Formbewusstsein, subtiler Figurenpsychologie und atmosphärischer Sprache. Man bewundert die Weite und Tiefe der Menschenkenntnis dieser jungen Autorin.

 

«Wir müssen leben, egal wie viele Himmel fallen» –Anna Stern hat das Zitat dem englischen Schriftsteller D (David).H (Herbert). Lawrence entlehnt – und als Motto ihrem Erzählband vorangestellt. Das macht Sinn: Denn in ihren zehn Geschichten ertrinken Kinder oder stürzen von Felswänden, Eltern sterben bei Bränden, Nachbarn werden ermordet. Nach missglückten Rettungsversuchen, fahrlässigen Mutproben, vernarbten Verletzungen und Schicksalsschlägen geht das Leben in ihren Erzählungen aber weiter – mal melancholisch, mal wortlos, mal obsessiv, mal neurotisch. Immer jedoch mit wacher Tapferkeit. Ihre Erzählungen werden so zu einem lebensphilosophischen Auffangnetz: Sie berichten vom pragmatischen Umgang und vom melancholischen Optimismus mit Lebenstragödien.

 

Variantenreich wechselt die Autorin zwischen Drama, Beziehungsstudie, Brief und Anti-Krimi. Ihr gelingen eindringliche Seelenporträts: Etwa jener jungen Frau, die an der Idee festhält, sie habe David Bowie ihr Leben zu verdanken, weil ihre Mutter dank ihm einen Bus verpasst hat, der später verunglückte. Oder wie in der Geschichte, die Diana Dengler uns vorgestellt hat: eine Gruppe junger Leute, die aus Übermut den Tod eines Jungen verschuldet und am Schuldkomplex zerbricht.

 

Für Krimiliebhaber übrigens hat Anna Stern auch einen Roman geschrieben: «Der Gutachter» erzählt mit vielen Fakten zum Ökosystem einen Bodensee-Krimi. Darin wird der See zum politischen Zankapfel zwischen Naturschutz und den Interessen der Fischerei, vor allem aber wird der Bodensee zur Schicksalsmacht. Dieser grosse See nämlich ist übermächtig und führt einige in Schuld und Sühne, in Einsamkeit und Schwermut.

 

Heute Abend wollen wir aber nicht schwermütig werden, sondern uns freuen, dass wir mit Anna Stern einen Förderpreis einer jungen, vielversprechenden Autorin verleihen dürfen. Und wir freuen uns auf weitere literarische Antibiotika gegen Lebenskatastrophen. In diesem Sinne darf ich Anna Stern zu mir bitten: Nun gibt es nämlich eine Urkunde zu überreichen.

http://www.annastern.ch/